Herr Bischof Pickel, Sie leiten die Diözese St. Clemens mit Sitz in Saratow, zwar das kleinste katholische Bistum in Russland, aber das ist 4-mal so groß wie Deutschland. Gleichzeitig sind Sie Präsident der Diözesancaritas Südrussland. Seit 13 Jahren besteht eine Partnerschaft mit dem Bistum Osnabrück. Welches sind die dringendsten Aufgaben in dieser Zusammenarbeit?
Bischof Clemens Pickel: Die Partnerschaft mit Osnabrück fing mit Kühen an. Das war – und ist auch heute noch manchmal – eine sehr gute Hilfe für Familien, die um ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen. Milch und Käse, die nicht selbst verzehrt werden, kommen auf den Marktplatz oder werden in der Nachbarschaft verkauft. Sie fragen nach dem Wichtigsten. So unlogisch es klingen mag, wenn man sich die Situation hier vor Ort angeschaut hat: Das wichtigste ist nicht das Geld und die notwendige (besser: „notwendende“) Hilfe, sondern das Gefühl: Wir sind nicht allein. Es gibt jemand, der weiß, dass es uns gibt. Wir haben „Geschwister“ – Brüder, Schwestern – die sich Gedanken um uns machen, die uns gern haben, die vielleicht sogar auch für uns beten. Und dann sind da natürlich die „Projekte“: Handwerker, die für ein paar Wochen zu uns kommen und kostenlos helfen, Unterstützung für Studenten, Obdachlose, Kinderzentren, Hauskrankenpflege, Nothilfe in Krankheitsfällen und im Winter und vieles mehr. Wichtig bleibt, wie ich vor 13 Jahren bat: Es dürfen keine Strohfeuer sein, die Hilfsaktionen. Sonst macht man mehr kaputt als man aufbaut.
Das katholische Hilfswerk Renovabis unterstützt hilfsbedürftige Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Die 20. Pfingstaktion wird Anfang Mai (3.–6. 5.) in Osnabrück eröffnet. Sie sind dabei, wenn die Fotoausstellung „Mitten im Leben – Leben am Rand“ am 3. 5. im Forum am Dom eröffnet wird. Was erwartet die Besucher?
Soviel ich weiß, wird auch ein ganzer Teil Fotos dabei sein, die ich in meinem Bischofsalltag gemacht habe. Er unterscheidet sich natürlich von dem meiner Mitbrüder in Westeuropa. Ob die Bilder rüberbringen, was in ihnen steckt, kann ich nur hoffen. Am liebsten würde ich neben jedem Foto stehen und seine Geschichte erzählen.
Im reichen Westen ist unvorstellbar, was „große Armut“ bedeutet. Welche Auswirkungen hat das auf Familien und besonders die Kinder?
Schwer vorstellbar im Westen ist die Größe der Löcher im sozialen Netz hier bei uns. Was es heißt, wenn eine 5-köpfige Familie versucht, vom Kindergeld zu leben, weil die Eltern aus gesundheitlichen Gründen keine Arbeit finden und für eine Invalidenrente für zu gesund gehalten werden, kann selbst ich mir kaum vorstellen. Aber ich kenne solche Leute. Wie man im Krankenhaus „behandelt“ wird, wenn man nichts mitbringt, warum so viele zur Flasche greifen, warum Kinder nicht nach Hause wollen. Ich erlebe es fast täglich. Armut ist oft ein Zeichen von Verachtung durch die Reichen. Und sie nimmt den Armen nicht selten auch ihre letzte Würde.
In dem Osnabrücker Partnerbistum St. Clemens hat die Caritas 6 Kinderzentren eingerichtet. Was leisten sie und wie werden sie finanziert?
In jedem Kinderzentrum werden etwa 20 Kinder „zwischen Schule und zu Hause“ betreut, d. h. an den Nachmittagen oder – da, wo die Kinder in der 2. Schicht lernen – an den Vormittagen. Es sind Kinder aus sozial sehr schwachen Verhältnissen. Oft haben sie Probleme mit dem Lernen, im Umgang miteinander, mit den Eltern, wenn es die überhaupt gibt. Fachleute und Freiwillige sind am nicht einfachen Projekt beteiligt. Ein Zentrum kostet „uns“ im Monat 2 700 Euro. Wir haben das Geld nicht. Es kommt aus verschiedenen Quellen in Deutschland. Wir hoffen, in Zukunft auch von Renovabis.
Das heißt, die Kinderzentren können nur überleben, wenn über das Partnerschaftsprojekt „Kuh für Marx“ genug Spenden fließen?
Natürlich. 5 von 6 Kinderzentren müssen wir ganz sicher in dem Moment schließen, wenn keine Spenden mehr kommen. Warum nur fünf? Weil ich bei einem Hoffnung auf konkrete Hilfe habe. Das ganze Projekt ist aufwendig. Aber der Aufwand lohnt sich. Das gilt nicht nur für die Kinderzentren. Wir können in Russland nicht, wie in anderen osteuropäischen Ländern, von der Wende sprechen, die ihren Platz vor ca. 20 Jahren in der Geschichte hatte. Wir stecken immer noch drin im Wenden. So manchem Partner ist schon schwindelig davon geworden, so dass er sich fürs Aussteigen entschloss. Als Deutscher kann ich gut verstehen, warum so manchem die Geduld nicht reicht. Als ich 1988 zum Priester geweiht wurde, war mir ein Satz aus dem Johannesevangelium so wichtig, dass ich ihn über mein ganzes Leben schreiben wollte. Da fragt Jesus seine Jünger: „Wollt auch ihr gehen?“ und Petrus antwortet ihm: „Wohin denn?“ (Johannes 6,68). Wahrscheinlich bin ich deshalb noch da.