Saratow/Marx, den
14. Juni 2013
Meine lieben Freunde und – heute ganz bewusst auch – Verwandten!
Vor einer Woche, am 5. Juni, habe ich ein großes Fest feiern -, oder besser
gesagt, erleben dürfen. In diesem Monat ist es 25 Jahre her, dass ich in Dresden
an der Elbe zum Priester geweiht wurde. Und es ist 15 Jahre her, dass ich in
Marx an der Wolga zum Bischof geweiht wurde. Im Laufe der letzten Monate wurde
mir immer bewusster, dass das ein gewichtiger Grund ist, Gott zu danken. Darum
lud ich hauptsächlich Priester und Ordensleute aus dem Bistum ein. „Von weit
her, wegen einer Messe und einem Mittagessen“ – das wollte ich keinem so
richtig zumuten. Aber gar nicht einladen – wäre auch nicht gut gewesen. Da eine
zweite Feier in der alten Heimat zweifelhaft schien, kamen u.a. zwei meiner
Brüder, Benno und Johannes, extra für diesen Tag, den langen Weg aus
Deutschland an die Wolga gereist. Wegen des Hochwassers hatten sie ihr Flugzeug
verpasst! Auch kleine Delegationen aus einigen Pfarrgemeinden und eine Menge Ministranten
schmückten das Fest mit ihrer Anwesenheit. Wir zählten über 60
Übernachtungswünsche vom 4. zum 5. Juni in Marx. Andere fuhren die Nacht durch
und trafen am Morgen ein. Wenn ich sage „wir (zählten)“, dann meine ich
besonders die, auf deren Hilfe ich seit über zwei Jahrzehnten rechnen darf: die
Schwestern in Marx, aber auch Pater Tomasz und Pater Michail, die beiden
Pfarrer in Marx und Saratow u.a.
Eine schön vorbereitete Liturgiefeier in der vollen Pfarrkirche bildete das
Zentrum des Tages. Es ging festlich, ruhig, lebendig und froh zu. Alle sangen
gern mit. Der Zauber, den man nur in Marx spüren kann, wie es ein Gast
ausdrückte, lag über dem Tag wie eine helle Wolke. Als wir nach der Kommunion
das „Großer Gott, wir loben dich“ auf Russisch sangen, alle Strophen, versteht
sich, trat hinten der orthodoxe Bischof von Saratow in die Kirche. Nach einigem
Zögern ließ er sich vom Generalvikar auf dem nur für diesen Tag ausgelegten
Teppich nach vorn begleiten. Ich begrüßte ihn, … alles noch während des Liedes.
Und als unser Nuntius aus Moskau ein paar Grußworte gesprochen hatte, trat
Bischof Longin an den Ambo. Seine freundschaftlichen, geistlichen Gedanken
gingen vielen zu Herzen. Das war ein Erlebnis von Ökumene, das so manchem die
Augen öffnete und alle mit Freude erfüllte. 25 große, dunkelrote Rosen hatte
mir mein orthodoxer Mitbruder mitgebracht.
Ein kleiner offizieller Empfang für die Ehrengäste schloss sich im
Pfarrhaus an, während für Gemeinde und übrige Gäste Zeit zum Plaudern, bzw. zur
Vorbereitung auf ein Riesenmittagessen (für 150 Personen) und Programmeinlagen
war. Caritasvertreter aus Ost und West, mein Bruder Benno als Vorsitzender des
St.-Clemens-Vereins und der evangelische Propst aus Saratow waren genauso beim
Empfang dabei, wie die orthodoxen Geistlichen und zwei Vertreter des
Gouverneurs. Sogar ein regionaler Fernsehkanal war zum Fest gekommen, ohne dass
wir vorher davon wussten. Es ist viele Jahre her, dass ich einmal vor einem
russischen Medien-Mikrofon stand. Damals versuchte man, eine bestimmte
Formulierung aus mir herauszulocken. Und weil das nicht gelang, zerschnitt man
später einen Satz für die Sendung. Die Leute vom Kamerateam gaben diesmal ihr
Bestes.
Mittagessen „unter uns“ und Gratulationen bildeten im Anschluss eine
Einheit von etwa zwei Stunden. Es war wie in einer Familie mit 150 Personen.
Nachdem alle sehr gut gegessen hatten, machten die Marxer den Anfang: ein
fröhliches Programm mit Tanz und lieben Worten. Kinder traten auf, aber auch
Großmütter und, und, und! Dann die afrikanischen Studenten aus Saratow, die
Pfarrjugend. Immer wieder überreichte man mir Geschenke. Ich gebe zu, bis heute
habe ich viele noch nicht ausgepackt. Kurz vor drei musste ich meine Gäste
sitzen lassen, weil der Vizegouverneur in Saratow vom Besuch des Nuntius gehört
hatte und ihn vor seinem Rückflug (18.00 Uhr) treffen wollte. Der Nuntius ist
Botschafter des Vatikans, also ein hoher Diplomat. Man konnte nicht anders als
einen „offiziellen Besuch“ daraus zu machen. Es wäre nicht gut gewesen, den Nuntius
allein zur Gebietsverwaltung gehen zu
lassen. Ich war dem Vizegouverneur nie zuvor begegnet. Mit 160 jagten wir über
die mir seit 22 Jahren bekannte Landstraße von Marx nach Saratow. Trotzdem
blieben wir auf der Wolgabrücke im Stau stecken und kamen eine Viertelstunde zu
spät. Es ging intelligent und höflich zu. Als ich den Nuntius dann glücklich
ins Flugzeug gesetzt hatte, fuhr ich in Ruhe zurück nach Marx. In der Kirche
war gerade eucharistische Anbetung. Ich konnte aber nicht gleich eintreten, weil
draußen der Pastor der Baptistengemeinde stand und auch noch gratulieren
wollte. Er hatte sich in der Zeit geirrt. Zum Abendessen waren wir nicht mehr
viele. Vielleicht 30 Personen. Dann kehrten wir mit drei Autos zum Übernachten
nach Saratow zurück.
Vieles von der selbstverständlichen Freundschaft, die an jenem Tag zu
spüren war, kann man mit Worten schwer wiedergeben. Ich muss gestehen, hätten
mich andere nicht darauf aufmerksam gemacht, würde ich selbst das nicht
schreiben. Ich kenne viele der Menschen in Marx, weil ich 10 Jahre lang ihr
Pfarrer war. Ich kenne aber auch die Kinder und die oft schweren
Lebensgeschichten der Kleinen. Natürlich habe ich sie gern. Und sie – das
werden unsere Gäste bestätigen – mich auch. Als alle fort waren, zwei Tage
später, kam ich zu jener Ruhe, die sicher mit Gott zu tun hat. Ein wenig
beschämt und trotzdem sehr froh, bewegte mich folgender Gedanke: Ich wollte
danken. Das war der Grund der ganzen Einladung und der Feier. Jetzt aber war
ich so beschenkt, dass das mit dem Dank nicht erledigt war, sondern ich noch
viel mehr danken müsste (und will).
Neue Termine haben sich seither über den 5. Juni geschoben, Reisen,
Büroarbeit – die nicht nur aus Computer und Papier besteht, Gäste, Gespräche,
die Suche nach dem, was Gott heute
will… Und doch möchte ich jenen Tag nicht wie einen Schnellzug aus den Augen
verlieren. Es war nicht Alltag, aber – vielleicht darf man, wenn nämlich mit
Demut, sagen – eine Frucht des Alltags. Eine Frucht des Alltags vieler Helfer,
die das Evangelium zur Richtschnur ihres Lebens gemacht haben, eine Frucht des
Alltags meiner Freunde, mit denen ich hier leben darf.
Und zu guter Letzt möchte ich auch denen danken, die auf unsichtbare Weise
durch Gebet oder in Gedanken, oder auch durch einen Brief oder ein Geschenk am
Fest beteiligt waren, angefangen bei meinen Eltern.
„Herr, zu wem soll(t)en wir gehen?“ stand vor 25 Jahren auf meinen
Primizbildchen. Und er hat mich nach Russland gezogen. In mein Bischofswappen
ließ ich 10 Jahre später schreiben: „Komm, Herr Jesus“ (Veni, Domine Jesu). Mögen
das die Grundlinien auch für den Rest der Jahre bleiben: Das Bleiben und das
Warten im Zugehen auf sein Dasein.
Ich schließe diesen kleinen Brief mit Dank, der bleibenden Bitte um Gebet
und einem herzlichen Gruß.
Ihr und Euer Clemens Pickel