Saratow, am Abend des 4. Fastensonntages (Laetare) 2012
Liebe Freunde!
Es scheint noch weit bis Ostern zu sein. Aber wenn man schon nicht voraussehen kann, dann muss man wenigstens vorausplanen. Gedächtnis und Verstand sagen mir, dass es Zeit für einen Ostergruß ist. Der Wille schließt sich an.
Heute soll es kein Rückblick auf verschiedene Ereignisse, Erfahrungen und Begegnungen werden. Nur den gerade zu Ende gehenden Tag möchte ich erzählen, weil gerade er – Laetare (Freu dich!) – einen österlichen Vorgeschmack in sich barg.
Seit gestern hatte ich Gäste: vier Mädchen aus unserer Pfarrei in Marx, denen ich seit Neujahr versprochen hatte, sie einmal nach Saratow einzuladen: Kinder aus armen Familien, neun, zehn, zwölf und dreizehn Jahre alt. Ein heftiger Schneesturm hätte uns gestern Abend beinahe noch einen Strich durch die Planung gemacht. Als ich die Kinder aber mit ihren Taschen abfahrtbereit an der Klostertür stehen sah, kam es mir nicht mehr in den Sinn abzusagen. Wir waren noch keinen Kilometer gefahren, das zogen die vier ihre Rosenkränze aus der Tasche und begannen zu beten, als ob das zu ihrem Alltag gehöre. – Vielleicht wirklich?! Der Schnee ging in Regen über, die Straße war glatt, das Auto gut. Wir erreichten die Großstadt nach eineinhalb Stunden und fuhren einkaufen, fürs Abendbrot. Jede suchte sich aus dem Getränkeregel etwas aus. Die ofenwarmen Brote bestaunten und beschnupperten die Kinder, bevor sie drei davon auswählten. Dann suchten wir Pizza im Kühlfach. Schnell lagen auch davon zwei Schachteln im Einkaufskorb. Wir tauschten sie nochmal um, als die Kinder Pizza „mit Wurst!“ entdeckten. Es war wunderschön, mit diesen einfachen und guten Kindern unterwegs zu sein. Auf den letzten vier Kilometern nach Hause mussten die ersten zwei Brote „dran glauben“. Es duftete zu unwiderstehlich im Auto… Kurz bevor ich das Auto vor dem Haus parken wollte, sahen wir eine unserer Ordensschwestern im Dunkeln nach Hause gehen. Jana, Dascha, Regina und Maria waren kaum zu halten. Sie sprangen aus dem Auto und Schwester Swetlana um den Hals. Dann genossen sie die Attraktionen der Stadt: Fahrstuhl, Balkon, warmes Wasser aus dem Hahn … Sie halfen beim Tischdecken und planten das Abwaschen. Das letzte Brot hatten sie den Schwestern geschenkt. Die Pizza schmeckte köstlich. Dann ging’s Schlafen - in die Gästewohnung, in der noch einen Tag vorher Priester aus dem Bistum – und schon manchmal meine Kollegen von der Bischofskonferenz übernachtet hatten. Schwester Swetlana blieb bei den schon nicht mehr kleinen Kindern, obwohl niemand zum Aufpassen nötig war.
Beim Frühstück – will ich hier gern sagen – freute ich mich, wie sparsam die Kinder ihre Brote bestrichen und belegten. Nicht so wie andere, die ihre Armut gern zur Schau stellen, dann aber Käse und Wurst übereinander aufs Brot legen. Zur Messe fuhren wir mit dem Auto, weil es zum ersten Mal richtig taute und von den Dächern schwerer Schnee rutschte, während vorbeifahrende Autos die Fußgänger von der anderen Seite mit braunem Schmutzwasser bespritzten. Es waren schöne Texte heute in den Lesungen, sogar der Psalm: „An den Flüssen von Babylon …“! Gottes bedingungslose Liebe – wenn wir mehr daran glauben würden, wir könnten sehr viel Gutes tun. Am Ende der Messe dankte ich allen, die seit dem ersten Fastensonntag um Gesundheit für und das Kommen von Pfarrer Reinhard Doleschal gebetet hatten. Der im Bistum Magdeburg gerade in den Ruhestand Getretene hatte angeboten, zu uns nach Russland zu kommen. Die neue Nachricht passte natürlich prima zu Laetare: Er kommt ab 4. April. Dann hat Saratow wieder einen Kaplan!
Zum Treffen mit den ausländischen Studenten nach der Messe, kamen alle vier Mädchen mit. Sie hofften, die Helfer wiederzusehen, die im letzten Sommer in Marx bei den Kinderwochen dabei waren. Die ganze Stunde saßen sie neben mir und hielten aus, obwohl es in der an die 20 Teilnehmer zählenden Runde zum größten Teil englisch zuging. Dann fuhren wir wieder nach Hause, ließen das Auto stehen und suchten, wo man günstig zu Mittag essen könne. Die Schwestern waren alle in der Kirche geblieben: Katechese, Chorprobe, … Sonntags kommen sie erst gegen drei nach Hause. Ich verschätzte mich beim Bestellen. Die Kinder essen sehr wenig. Was übrig blieb, trugen wir den Schwestern nach Hause. Um die Autofahrt nicht mit vollem Magen anzutreten – das gab früher schon Probleme – schickte ich die Kinder nochmals in „ihre“ Wohnung zur Mittagsruhe. Mir scheint, sie haben alles andere gemacht, nur nicht geruht. Nach einer Tasse Tee verabschiedeten wir uns von den Schwestern und traten den Rückweg nach Marx an. Sonntags dauert das nicht länger als eine Stunde. Es taute erstmals seit Monaten, was unvorstellbar schmutzige Straßen bedeutet. Alle vier bedankten sich noch im Auto für den Tag. Keine erwartete, dass ich sie bis nach Hause vor die Tür fahre… Alles Kleinigkeiten, die nicht selbstverständlich, ja eher ungewöhnlich sind und die mich sehr freuten!
Zum Abendessen blieb ich im Kloster. Auch da war am Tisch Laetere-Stimmung. Dann wusch ich die schmutzverklebten Scheinwerfer und Nummernschilder ab und kehrte nach Saratow zurück, wo ich nun heute noch diesen Brief zu Papier bringen will, weil ich den engen Plan für die kommenden drei Wochen gut kenne.
Wir sind über die Mitte der Fastenzeit hinweg. Nun geht es … bergauf! Viel Arbeit haben die Priester und Ordensleute nicht nur in meinem Bistum vor sich. Und viel Arbeit an uns selbst – haben wir alle noch zu leisten. Es wäre doch traurig, wenn wir bleiben, wie wir sind. Die Freude, die ich in den Kleinigkeiten des heutigen Sonntags entdecken durfte, soll mir sicher helfen, mich neu auf den Weg zu machen. Ich wünsche sie allen!
Eine gnadenreiche Karwoche und ein fröhliches Osterfest!
Ihr + Clemens Pickel