Samstag, 17. Dezember 2011

Brief im Advent 2011

Saratow, am 3. Adventssonntag 2011

Liebe Freunde im deutschen Sprachraum!

Seit August trage, oder besser gesagt: schleppe, ich den Gedanken mit mir herum, dass ich schon lange keinen Brief mehr geschrieben habe. Ich meine nicht die Amtspost, sondern einfach – „wie früher“ einen Brief an Freunde, die mein Bistum und mich auf vielfältige Weise unterstützen. Im Sommer war es der Weltjugendtag in Spanien, von dem ich mit dankbaren Eindrücken nach Hause gekehrt war, und von dem ich erzählen wollte. Ich hatte 150 Jugendliche aus unseren vier Bistümern in Russland begleitet. Eine ermutigende Erfahrung, obwohl ich anfangs gar nicht so recht fahren wollte. Zwölf Tage! Das war mir zu lang. Später habe ich es aber nicht bereut. Die Wachsamkeit der jungen Leute für ihren Glauben, Interesse am Thema Berufung, Offenheit und Vertrauen mir gegenüber … Na, vielleicht spielte es ja auch eine Rolle, dass ich gerade dort in Madrid 50 geworden bin. Wahrscheinlich sehen die mich nun langsam, wie sie Großväter sehen, denen man alles erzählen kann. An die drei russischen Katechesen mit je an die 1000 Jugendlichen erinnere ich mich gut, an die Anbetungsstunden in Zaragossa und Madrid, aber auch an die nicht wenigen Stunden im Beichtstuhl. Mängel bei der Ausrichtung des Treffens für eineinhalb Millionen Jugendliche mit dem Papst, waren bei allen unseren Teilnehmern schnell vergessen, weil es so viel Gutes zu erzählen – und so viel zu danken gab. Unserem Moskauer Vorbereitungsteam mit Pater Fernando gilt besonderer Dank.

Ohne gleich in den Kalender zu schauen, überlege ich, was seither wichtig war und erzählenswert sein könnte: Ich war sehr viel unterwegs, was für die Arbeit im Büro nicht gut ist. Und ich bin sogar ein bisschen müde davon. Trotzdem sehe ich im ersten Rückblick auf das Jahr, dass ich – wenn nur irgendwie möglich - mehr hätte reisen sollen, in unsere Gemeinden und besonders zu den Priestern. Katholische Diaspora im heutigen Russland ist ein härteres Brot als vor 20 Jahren. Dass Berufung auch immer wieder des aktuellen „Adsum“ („Ich bin bereit.“) der Berufenen bedarf, erlebe ich oft und beschäftigt mich sehr. Mein Prinzip, immer zwei Priester an einem Ort wohnen zu lassen, auch wenn das einen weit größeren Einzugsbereich für die Seelsorge bedeutet, kann ich nicht mehr einhalten, weil in diesem Jahr sechs Seelsorger aus verschiedenen Gründen das Bistum verlassen haben. Zwei gehen in der ersten Hälfte des kommenden Jahres in ihre Heimatländer zurück.

(Ich schreibe den Brief stückchenweise, zwischendurch. Heute ist Montag, der 12.12.) Die am wenigsten anstrengende Reise, weil auch die schönste im vergangenen Halbjahr, war die zu einem Exerzitienkurs nach Jerusalem, den ich direkt im Garten Getsemani begleiten durfte. 17 junge Ordensschwestern gaben mir ein herausfordernd schönes Beispiel für persönliches geistliches Leben und das in Gemeinschaft. Nochmals möchte ich den Sponsoren danken, auch wenn sie - in diesem Fall - in Italien wohnen und diesen Brief nicht lesen werden.

Drei Tage in Osnabrück sind mir ebenfalls in guter Erinnerung geblieben. Anfang Oktober war ich dort seit langem wieder einmal zu Gast bei der Caritas, beim Weihbischof, in Gemeinden und Klöstern. Es war für mich ungewohnt und unerwartet, so viel Interesse an - und Offenheit für die Anliegen unserer katholischen Diasporakirche in Russland zu erleben. Das war ein „Motivationsschub“, muss ich sagen, und sage ich, mit Dank und Freude. Das größte Thema und „Projekt“, das nun endlich Formen annimmt, ist die Sorge um einsame Schwerstkranke und Sterbende bei uns im Bistum. An ein Altenheim mit Hospiz ist vorläufig nicht zu denken, aber den Anfang wagen wir doch, nämlich mit einem ambulanten Pflegedienst, der auch die Schulung der Angehörigen einbeziehen soll. Bald kann ich Genaueres sagen.

Zweimal kurz aufeinander war ich in Novosibirsk, was insgesamt fünfeinhalb Flugstunden von Saratow entfernt liegt. Eine Sitzung der Bischofskonferenz und die Einweihung des neuen Diözesanzentrums fügten es so. Das Zentrum trägt den Namen eines Bischofs, von dem ich schon viel gehört hatte und von dessen Heiligkeit die Menschen in Karaganda (Kasachstan) überzeugt waren: Alexander Chira (+1983). Bischof Joseph Werth hat gut ausgewählt, denn „Pater Alexander“, wie man ihn nannte, ist nicht nur ein strahlendes Vorbild für pastoralen Dienst, sondern vereinte in seiner Person auch Ost- und Westritus der Kirche: Er war Priester des byzantinischen Ritus und Seelsorger unter Katholiken, die meist zum lateinischen Ritus gehörten.

(Dienstag, 13.12.) Wenn ich so weiter schreibe, klingt es und spürt man, als ob ich bei all den Bischofsverpflichtungen langsam den Kontakt zur Basis verlieren könnte. Das ist eine echte Gefahr und tut mir leid. Darum war ich alles andere als dagegen, als ich unseren sterbenskranken Pater Jan zweimal im Gefängnis in Mordowien vertreten durfte. Dort warten die Gefangenen nicht, wie die tief gläubigen Menschen in der Sowjetunion auf Priester gewartet hatten. Aber sie warten dennoch, nur anders. Und dass ich nun im Advent zumindest zwei Krankenbesuche bei alten Wolgadeutschen geschafft habe, war ein Geschenk für mich. Auch in die Dörfer war ich von Zeit zu Zeit gekommen und habe gesehen, wie Menschen – besonders Frauen – versuchen, im Kampf mit der Hoffnungslosigkeit nicht zu unterliegen. Wie viele Beispiele müsste ich hier erzählen! Und ich besuchte Gemeinden im Kaukasus, an der Wolga und im südlichen Ural. Erst jetzt, seit einigen Tagen, sitze ich ruhig am Schreibtisch und weiß: In diesem Jahr steht keine Reise mehr bevor.

Eher „so nebenbei“ als bewusst, werden schon viele gehört haben, dass Papst Benedikt ein „Jahr des Glaubens“ angekündigt hat, das aber erst im Oktober nächsten Jahres beginnen soll. In einem zwölfseitigen Brief (Apostolisches Schreiben „Porta Fidei“) erklärt er die Gründe. Als ich den Brief las, begann ich mich auf das Jahr zu freuen. Viele gute Impulse stecken im Text. Und es wird nicht zu früh sein, wenn wir jetzt mit der Vorbereitung beginnen. Er schreibt zum Beispiel: „Die Kirche als ganze und die Hirten in ihr müssen sich auf den Weg machen… um die Menschen aus der Wüste zur Freundschaft mit dem Sohn Gottes zu führen.“ – Mich spricht der Gedanke an, dass sich die Hirten auf den Weg machen müssen, nicht nur die anderen. Und dass der Papst von der „Freundschaft mit Jesus“ spricht, ist einfach und schön. Irgendwo im Text lobt er das edle soziale, kulturelle und politische Engagement der Christen. Dass das alles aber seinen festen Grund im Glauben habe, kann man heute nicht mehr unbedingt voraussetzen. Das Glaubensfundament bröckelt innerhalb der Kirche. Was dabei herauskommt, kann man sich vorstellen und kann man ja leider auch manchmal schon sehen. Wir haben im Bistum begonnen, uns diese Thematik bewusst zu Herzen zu nehmen und wollen am Fundament arbeiten.

Seit unser Saratower Kaplan nach Samara versetzt wurde, ist in der Pfarrei nur ein ständiger Priester geblieben. Darum haben wir uns die Weihnachtsgottesdienste auf den Außenstationen und in der Stadt aufgeteilt. Wenn es beim bisherigen Plan bleibt, bin ich Heiligabend in Penza. Das sind ungefähr 200 km von Saratow. Der 25. Dezember ist ein Sonntag, also mal kein Arbeitstag in Russland. So hoffe ich, Weihnachten dann am Tage mit der Gemeinde in Saratow feiern zu können. Was dadurch wegfällt, zum ersten Mal, ist der Besuch in Marx. Natürlich hole ich ihn nach, schon am 26.12., auch wenn es kein arbeitsfreier Tag im Land ist.

Liebe Freunde und liebe Verwandte! Das wird mein einziger also auch letzter Brief vor Weihnachten sein. Ich möchte mich bei allen herzlich für die innere Verbundenheit im zu Ende gehenden Jahr bedanken, für Interesse und Unterstützung, für Post und Gebet. Und ich wünsche allen, ob wir nun „Sie“ oder „Du“ zueinander sagen, dass wir wie kleine Geschwister zu Hause, gemeinsam die große Freude der Weihnachtsbotschaft in uns aufnehmen können, wenn wir in wenigen Tagen zur Kirche gehen und schauen, und hören, und singen und … schweigen.

Frohe Weihnachten und ein gnadenreiches neues Jahr!

Ihr und Euer + Clemens Pickel