Samstag, 23. April 2011

Osterbrief von vor drei Wochen

Anfang April ahnte ich, dass ich später kaum noch zum Briefe-Schreiben kommen werde. Darum hatte ich schon damals, vor fast drei Wochen, einen Ostergruß angehängt. Zwar lassen die Beispiele im Brief Ostern noch gar nicht so richtig ahnen. Umgekehrt aber: Wozu bräuchte eine heile Welt Ostern?


Saratow, den 4. April 2011

Liebe Freunde in Deutschland!

Wir haben die Mitte der Fastenzeit überschritten. Wenn ich in den Kalender schaue, ist mir klar, dass die Zeit bis Ostern gut gefüllt mit Reisen und Verpflichtungen in Saratow sein wird. Um endlich einmal wieder einen Brief zu schreiben, scheint jetzt ein letzter günstiger Moment zu sein, eine halbe Stunde, bevor es los geht, im Büro.

Ich hatte mir drei Tage frei genommen, um nach dem ersten Quartal des Jahres Luft zu holen. Gegen Ende März schien das immer nötiger. Zwar tat es mir leid, dass ich nicht zur Einführung des neuen Bischofs in Karaganda fliegen konnte, die gestern stattfand, wir sind seit 1991 befreundet, aber mit der Visabeschaffung für Kasachstan war es dann doch nicht so einfach, wie ich dachte. - Fügung.

An diese drei freien Tage habe ich „Hausaufgaben“ gemacht, die längst nachzuholen waren, bin aber auch spazieren gegangen, in Marx, wo ich von 1991 bis 2000 Pfarrer war. Tauwetter, Gummistiefel, riesige schmutzige Pfützen, … das hat mich weder verwundert noch erschreckt. Traurig war es dennoch, die verfallenden Häuser zu sehen, an denen auch in den letzten 10 Jahren nichts gemacht wurde. Gewöhnlich bin ich ja nur in Kirche, Pfarrhaus, Kloster oder Kinderzentrum, wenn ich Marx besuche. Ich hatte schon fast vergessen, bzw. hatte nicht erwartet, dass es so schlecht geht, in der Stadt, und auf dem Land erst recht! Drei Beispiele will ich kurz dazu erzählen. Alle haben einen traurigen Unterton, womit ich jedoch keinen Pessimismus verbreiten will. Nur war ich doch langsam dabei, die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren, durch meine vielen Reisen und Begegnungen als das, was man vielerorts Bischof nennt.

In Stepnoje, Kreis Marx, ist vor kurzem die letzte deutschsprechende Großmutter verstorben. Barbara hieß sie. Vor 17 Jahren kam sie aus Duschanbe, der tadschikischen Hauptstadt, die ca. 700.000 Einwohner zählte, in dieses künstlich, mit deutschen Geldern errichtete Dorf für Flüchtlinge aus Mittelasien. 83 Wohneinheiten sollten eine neue Heimat für sie werden. Noch vor Abschluss der letzten Arbeiten im Dorf, zog sich die deutsche Seite immer mehr zurück. Man sah die Katastrophe voraus, denn es gab keine Arbeit in Stepnoje. Männer und Frauen begannen zu trinken, was das Zeug hielt. Todesursache „Nummer 1“ im Dorf: selbstgebrannter Fusel. Russland als Staat war damals nicht am Dorf interessiert. Wir versorgten die Leute mit humanitärer Hilfe, bauten eine Kapelle. Über Jahre hinweg blieb unklar, wem die Häuser inzwischen gehörten. Im Winter drehte die Kreisstadt den Gashahn zu, weil keiner bezahlte. Im Sommer gab es kein Wasser. Zur Kartoffelkäferbekämpfung gab es nur Einweckgläser, in die man die Käfer dreimal am Tag sammelte. Für die Kühe gab es kein Futter. Bei meinen Hausbesuchen erlebte ich immer wieder, wie jene Leute aus der Großstadt nun in roh verputzten Wänden leerer Häuser in der Steppe vor sich hin dösten. Als Kleiderschrank diente der Karton vom Fernseher. Im Haus war es feucht. Ich hatte Oma Barbara – mir tut es leid, es auszusprechen – vor Jahren das letzte Mal besucht. Sie wohnte damals am Dorfrand, konnte nicht mehr laufen und orientierte sich nur mit Mühe im Gespräch. Die Tochter, bei der sie wohnte, war nur sehr begrenzt in der Lange, ihre Mutter zu pflegen. Nun hat sie es „geschafft“, sagen wir. Die 17 letzten Jahre ihres – als Deutsche in Russland – schon immer schweren Lebens, hat diese arme Großmutter gehaust, gehungert, gelitten, geschwiegen. – Wir müssen endlich ein Altenheim bauen! (Müssen? Können??? Wollen.)

Das Nächste klingt wie ein Krimi. Und ich möchte kaum laut sagen, dass es alles wirklich so war. Stellen Sie sich vor, die Kinder armer Familien, die ein Kinderzentrum in der Kleinstadt besuchen, sind vom Bischof für zwei Tage zu ihm eingeladen. Für 22 Kinder braucht man schon einen richtigen Autobus für die 60 Kilometer. In der Bischofsstadt sind Busse leichter zu mieten. Im letzten Moment heißt es: Ein neues Gesetz verpflichtet uns, den Bus mit Kindern von einem Polizeiauto begleiten zu lassen. – „Teuer?“ – „Kein Problem“, sagt die Firma. Da es eine kostenlose Veranstaltung für arme Kinder ist, fährt die Polizei umsonst. Die aber wollte trotzdem das Geld „fürs Benzin“. Unser Zweifel an der Richtigkeit brachte den Polizeichef in Wut. Wir würden wohl denken, dass die alle Schmiergeldnehmer seien, schimpfte er aufgeregt und selbstbewusst. Er verlangte die Telefonnummer der Autobusfirma in der Großstadt und schaffte es in wenigen Minuten, dass die unseren Auftrag stornierte. „Nehmen sie doch einen Bus von hier“, schlug er dann vor. Die Lage schien ausweglos. Der Bus war teurer. Inzwischen kam ein anderer dazu, der erklärte, dass man Benzin gefunden habe, um die Kinder zu begleiten. Um den Bus nun zu mieten, waren noch verschiedene Wege nötig. Freitagnachmittag, überall schon zu! Dann stand irgendwo ein Mann auf der Straße und wartete schon auf uns. Sollten wir dem das Geld für den Bus bezahlen? – Wir machten Pause und sammelten am nächsten Morgen unsere Autos zusammen: zwei Kleinbusse und drei PKWs. Auch ich fuhr nach Marx, um vier der Kinder mit meinem Auto abzuholen. – Hätte man weiter „kämpfen“ sollen? Ich erinnere mich an die Meldung, dass ein stellvertretender Chef der Verkehrspolizei entlassen wurde, weil ihn ein empörter Bürger der Korruption beschuldigte. Zwei Tage später wurde der Bürger für 7 Tage eingesperrt. – Wir hatten Besuch aus Deutschland. Von dort aus ist es leicht zu sagen: „Immer weiter machen, den Kreis durchbrechen, bis es eines Tages geschafft ist.“ Darum will ich nur kurz abschließen mit der nicht zufälligen Reihenfolge der sogenannten Kardinaltugenden, die eben nur in dieser Reihenfolge Sinn haben: 1. Klugheit, 2. Gerechtigkeit, 3. Tapferkeit, 4. Maß.

Und als letzte Geschichte noch die: Als gestern Nachmittag, meinem dritten und letzten Ruhetag, das Tauwasser jede Chance auf einen erneuten Spaziergang in Marx oder Umgebung vereitelte, kam ich mit einer der Schwestern im Kloster ins Gespräch. Sie stammt selbst aus Marx, ist Russin, hat also keine katholischen Eltern oder andere christliche Vorfahren. Sie war vergangene Woche zum ersten Mal allein im Ordensgewand mit dem Zug gefahren: 1300 km, d.h. über 24 Stunden. In den russischen Großraumwagons kennt üblicherweise nach ein paar Stunden jeder jeden. Sie freute sich selbst, dass alles gut gegangen war. Die Reisenden hätten mit Interesse oder Desinteresse auf ihre Anwesenheit reagiert, nicht aber negativ. Schwester Irina erzählte mir von ihrer Idee, Jugendlichen mehr zu helfen. Neulich war sie in der Schule, in der sie gelernt hatte. Manche Lehrer kannten sie noch vom Unterricht. Gern würde sie in die Schule gehen, und Jugendlichen die Wahrheit über Abtreibungen erzählen, wo Tabu und Lüge herrschen. Auch was sie mir über Drogen in der Stadt erzählte, war mir in dem Ausmaß neu: Dort (sie zeigte in Richtung der 500 m entfernten Häuserblocks) würden Kinder aus unserer Pfarrei jeden Tag hin gehen, und da gäbe es Jugendliche, die ohne Drogen schon nicht mehr können. Sie zählte Schulkameraden auf, die – alle noch nicht 30 – daran gestorben seien. Das Problem ist nicht nur groß, sondern auch hautnah… Als wir zum Schluss noch ihr kleines Fotoalbum durchblätterten, mit Bildern der Zeit, als sie (mit 12 Jahren) anfing, zur Kirche zu kommen, aus der Studienzeit und von Familienfeiern, zeigt sie auf Nachbarn, Onkel und Bekannte, die nicht alt aussahen, aber alle schon verstorben sind. Woran? …

Gestern haben wir in der Kirche das Evangelium vom Blindgeborenen gelesen, den Jesus heilte. „Es kann doch nicht sein, dass er nun wirklich sehen kann!“ meinten die Leute. Jesus hatte einfach zu ihm gesagt: „Geh und wasch dich im Teich Schiloach! Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte.“ (Joh 9,7) – Unter den verschiedenen Übersetzungen für „Christus“ findet sich das gleiche Wort: auch Christus bedeutet „der Gesandte“. – „Sich waschen“, eintauchen in Christus, wirkt Wunder. – Für mich ist das keine trockene Predigt und kein Wortspiel, sondern sehr lebendige Erfahrung. Nicht nur die „Starken“, die im Untergrund der Sowjetunion geglaubt, gebetet, erzogen und Beispiel gegeben haben, nein, auch „neue“ Christen, ohne Fundament in der Familie, wagen sich aufs Wasser, werden von der Welt für verrückt gehalten und sind für sie „gestorben“. Sie sind normale Menschen, mit ihren Stärken und ihren Schwächen. Sie tun, was sie können. Und Christus hilft. Als ich 1991 nach Marx kam, stand im Bücherregal eine Broschüre über ein elfjähriges französisches Mädchen, das überzeugt war, dass „nichts schwer ist, wenn man Gott lieb hat“. Wie alt müssen wir werden, um ihr zuzustimmen?

Ich befürchte, dass ich vor Ostern nicht noch einmal zum Schreiben komme und möchte darum auf dem Hintergrund des eben Gesagten, mit einem Satz aus der Predigt meines ehemaligen Generalvikars schließen: „Wir sind ein österliches Volk. Und unser Lied ist das Alleluja.“ Wenn auch noch verschiedenste Kartage bevorstehen (althochdeutsch „kara“: „Klage, Kummer, Trauer“): Möge Sie das in der Taufe angestimmte Alleluja auf dem Grund Ihrer Seele begleiten! Ein hoffnungs-volles, und da-her frohes Osterfest wünscht Ihnen

Ihr Clemens Pickel