Dienstag, 21. Dezember 2010

Weihnachtsbrief

Saratow, den 18. Dezember 2010


Liebe Freunde und Wohltäter!

Heute früh in der Messe begann das Evangelium mit den Worten: „Mit der Geburt Jesu Christi war es so: …“ Die darauf folgende Geschichte vom Traum Josefs, den er ja mehr als ein halbes Jahr vor der Geburt Jesu geträumt haben muss, entspannt dann die Situation noch einmal. Aber wir kommen nicht drum herum: Bald ist Weihnachten! Darum möchte ich heute diesen Brief schreiben, dankbar für Eure und Ihre Hilfe im zu Ende gehenden Jahr.

Ich möchte noch ein bisschen beim Text aus dem Matthäusevangelium bleiben. Alles, was jetzt in der Liturgie geschieht, soll ja unseren Blick auf Weihnachten lenken, so auch die Sache mit Josef. Schade, dass sein Name im Osten nicht sehr verbreitet ist! Kann man doch wirklich viel von ihm lernen. Er war mit Maria verlobt. Die beiden waren verliebt. Und sie hatten keine übernatürlichen Pläne. Ganz normale junge Leute. Na, nicht ganz! Sie hatten etwas, was heute manche im Fremdwörterbuch suchen, nämlich Tugenden. In Verbindung damit wollte Josef Maria auch verlassen. Wie muss er sich über den Auftrag des Engels gefreut haben…!

Woran merkt man, dass man älter wird? Mittlerweile zähle ich zu denen, die mitreden können und denke: man merkt es daran, dass man sich häufiger an „früher“ erinnert. Auf 20 Jahre in Russland kann ich zurückblicken. Und für mich selbst ist es manchmal interessant, wie mir fast Vergessenes nochmals vor Augen steht.

Weihnachten 1990! Da war ich in Sibirien. Im Pfarrhaus in Nowosibirsk war es nachts so kalt, dass ich nichts von dem ablegte, was ich tagsüber an hatte. Jede Nacht wurde ich frierend wach. Mit Zittern dachte ich daran, dass ich ja trotzdem mal baden müsse. Die Wanne stand unten im Keller. Wenn man das „Bad“ betrat, stand man vor einer Art Thron. Bis unter die rohrbehangene Decke ging es ockerfarbene Stufen zur Wanne hinauf. Nur gebückt konnte man ins Wasser steigen. Das hing mit der Kanalisation im Stadtviertel zusammen. Dort in Sibirien begleitete mich eine Ordensschwester in entlegene Ortschaften: sechs Stunden Busfahrt, oder eine ganze Nacht mit dem Zug und früh weiter mit einem Bus, dessen Türen nicht richtig schlossen, … war normal. Als ich einmal melancholisch-betrübt aus dem vereisten Autobusfenster zu schauen versuchte und der Schwester mein Leid mit der russischen Sprache klagte, antwortet sie, das sei Eigenliebe, wie ich da jammere. – Das war vielleicht ein Schlag! Aber es hat geholfen wie eine Wundermedizin.

Das Weihnachtsfest sollte ich nach Anweisung von Pater Saulus, dem damals einzigen katholischen Priester in ganz Sibirien (!), im Altaigebiet verbringen, wo es viele Deutsche gab. Zum Predigen gab er mir einen polnischen Diakon mit. In der Ortschaft Malinovoe Ozero, zu Deutsch: Himbeersee, übernachteten wir bei einem alten, frommen Ehepaar. Die Frau ging zur Nachbarin schlafen. Der Diakon und ich bekamen ihr Bett. Wir mussten Stühle anstellen, damit er nicht rausfiel. Ich nahm den Platz an der teppichverhängten, salpetrigen Wand. Das WC ohne „W“ befand sich im Stall. Ich nahm mir vor, die Kuh nachts nicht zu erschrecken. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, weiß aber noch, dass es für die Leute, die von sehr weit her kamen, seit Jahrzehnten der erste Weihnachtsabend mit heiliger Messe war. Die Fensterscheiben vibrierten beim Gesang der alten deutschen Lieder. Alles auswendig, über Jahrzehnte bewahrt! Die Wände wurden feucht vom Atmen. Draußen war es sibirisch kalt. Auf dem Rückflug ins warme Duschanbe kam unsere wacklige Tu-154 nach der Zwischenlandung in Alma Ata nicht mehr hoch. Ein Schneesturm blockierte den Flughafen. Als einziger Ausländer wurde ich in eine riesige Halle begleitet, in der ich ganz allein die Nacht über schlafen durfte, auf einer Marmorbank, zugedeckt mit dem dicken, dunkelblauen Wintermantel der Diensthabenden.

Es gab andere Weihnachtsfeste. Ein Jahr später, zum Beispiel, 1991 in Marx. 300 Kinder im Bethaus. Die Erwachsenen mussten draußen stehen, bei minus 22 Grad, die ganze Christmette über. Das werde ich nicht vergessen. Dann: 1992 im unverputzten Keller der neuen Kirche, die noch nicht stand. Am Heiligabend fiel die Temperatur um 20 Grad! Es dampfte aus allen Ritzen, als wir den Keller nachts unter sternklarem Himmel verließen. 1993 war die Kirche schon geweiht, aber es war kalt, und wir zogen das Bethäuschen vor. Die Idee, einen Gottesdienst am Abend für die Kinder zu feiern, und eine Christmette um Mitternacht, brachte so gut wie nichts: Die Leute kamen zweimal.

Weihnachten 2004 fällt mir dann noch ein. Drei Monate nach dem Terroranschlag in Beslan, bei dem 186 Kinder und 148 Erwachsene ums Leben kamen, hatte der dortige Pfarrer kein neues Einreisevisum bekommen. Die Gemeinde im Kaukasus tat mir leid. Sollte Weihnachten in der Kirche ausfallen? Ich blätterte im Kirchenrecht und fand keinen Paragraphen, der mich verpflichtete, am Heiligabend als Bischof in der Kathedrale zu sein. Da übernahm ich die Vertretung. Unsere kleinen, weit verstreuten Diasporagemeinden sind wie kinderreiche Familien. Es war sehr schön, „Pfarrer“ sein zu dürfen. Das blieb jedoch eine Ausnahme. Auch in Saratow warten die Leute.

So werde ich in wenigen Tagen, am Heiligen Abend, hier in der Kathedrale sein. An den Tagen vorher helfe ich den Priestern beim Spenden des Bußsakraments. Viele in der Gemeinde verstehen, dass die Beichte zu einer guten Vorbereitung auf das Fest der Ankunft Christi gehört. Jemand von den Kleinsten wird am Freitagabend die Figur des Jesuskindes zu Beginn der Messe in die Krippe am Altar tragen. Ein kleiner Chor probt seit Wochen, was er singen wird. Und nach dem Vorbild meines einstigen Heimatpfarrers, will ich auch in diesem Jahr wieder vor dem Schlusssegen den jüngsten und den ältesten Gottesdienstbesucher herausfinden und beschenken. Leider kennen die Leute bei uns den Brauch der Bescherung zu Hause nicht. Dieser und andere Weihnachtsbräuche wurden im vergangenen Jahrhundert bewusst auf das Neujahrsfest verlegt.

In Saratow sieht man weniger Arme in der Kirche, als in den kleinen Städten und auf dem Land. Manchmal aber ist das nur Kulisse. Und ganz Arme kommen nicht, weil sie zu weit weg wohnen oder krank sind. Ich will daran denken, zum Beispiel an den seit Jahren an seine Wohnung gebundenen Rentner, der sich kaum auf den Beinen halten kann, mich aber bei jedem meiner seltenen Besuche mit strahlenden Augen, lächelnd empfängt; an die elternlose Jugendliche, der es nicht gut geht, und der eine Ärztin versprochen hatte, sie zu operieren, die nun aber (möglicherweise wegen fehlender Finanzen) einfach wieder nach Hause geschickt wurde. – Und auch, wenn ich nicht direkt hinfahren kann, will und muss ich sehen, was ich für den Priester tun kann, der sechs Jahre jünger ist als ich, und mit starken Herzrhythmusstörungen streng liegen müsste, statt dass er seine zwei Gemeinden betreut. Er hat keine Krankenversicherung, weil ein Sponsor für solche Sachen fehlt. Er bat mich auch um Geld für Winterreifen, weil seine jetzigen schon 6 Jahre alt sind. – Und ich hoffe, der armenischen Mutter eines Siebenjährigen helfen zu können, die noch ganze 3,25 Euro auf dem Sparbuch hat, und der die Obdachlosigkeit droht. Wenn ich vorübergehend bezahlen könnte, was man bei Gehaltsauszahlungen „Abzüge“ nennt, würde sich wahrscheinlich ein Arbeitgeber für sie finden, wenigstens für 1-2 Jahre, bis sie eingebürgert werden kann und leichter eine Stelle findet. Es geht etwa um 25 Euro im Monat.

Wer meine Seite im Internet kennt, hat gelesen, dass unser Nuntius versetzt wird. Acht Jahre war er in Russland, doppelt so lang wie gewöhnlich. Erzbischof Mennini kam in einer sehr schweren Zeit für unsere Kirche, nämlich nachdem Papst Johannes Paul II. die vier Apostolischen Administraturen zu Bistümern erhoben hatte. Das hatte heftige Reaktionen seitens der russisch-orthodoxen Kirche und sogenannter Patrioten hervorgerufen. Nun sind die Wogen wieder geglättet. Zweifellos hat der Erzbischof großen Verdienst daran.

Noch eine interessante Geschichte: Am 3. Adventssonntag durfte ich in Saratow einen Einkehrtag für Studenten aus Afrika und Indien halten, weil ich ein bisschen Englisch kann. Das war sehr schön mit den jungen Leuten. Ich spürte, dass sie in ihrer Heimat aktive Christen waren und dass sie beten können. Ich konnte mit ihnen an einem Punkt ansetzen, zu dem ich unsere einheimischen Jugendlichen oft und seit langem führen will. Große Augen machte ich, als mir einer erzählte, dass er sich zweimal im Priesterseminar seiner Heimat beworben hatte und nicht genommen wurde, weil es überfüllt war.

Und weil ich mit Josef begonnen hatte, will ich nun auch mit ihm enden. Er hat ja eine ziemliche „Nebenrolle“ zu Weihnachten bekommen. Auf Ikonen muss man häufig nach ihm suchen, und in Krippen schaut man nicht selten an ihm vorbei. Wie gut, dass er nicht weggegangen ist von Maria! Ich denke, auch er selbst hat das verstanden. Auch Euch und Ihnen allen möchte ich das wünschen: bleiben, aushalten, … und große Freude! Nehmt das Jesuskind einmal im Geist auf den Schoß oder in die Arme! Gott ist MENSCH geworden! Die Liebe in Person.

Ein gnadenreiches, frohes Weihnachtsfest wünsche ich allen!

Ihr und Euer Clemens Pickel