Ich war
freigestellt worden für die Seelsorge in der Sowjetunion und reiste mit zwei
Koffern, einer Umhängetasche und einem Halbjahresvisum ins Land ein. Vorher
hatte ich einen ganzen Monat Urlaub gemacht, hatte die offenen Grenzen
genossen, Papst Johannes Paul II. gesehen und seine Hand im Tumult einer
Generalaudienz gestreift. Ich übernachtete in der Villa Lituania, beim früheren
Pfarrer von Duschanbe, der jetzt in Rom studierte. Der zweite Golfkrieg stand
unmittelbar bevor. Am Nachmittag des 1. August flog ich von Berlin-Schönefeld
nach Leningrad (heute: Sankt Petersburg) und von dort über Nacht mit zwei
Zwischenstopps zum Tanken über Kazan und Leninabad nach Duschanbe. Die letzte
Etappe im Morgengrauen dauerte nur eine halbe Stunde. Bei der Landung in der
Hauptstadt der Tadschikischen Sowjetrepublik war die Sonne noch nicht
aufgegangen. Aber es war hell und still. Ein ungewohnter, feiner gelblicher Staub
lag in der Luft. Pater Hieronymus und Jura holten mich ab und schleppten meine
Koffer.
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RKW in der UdSSR 1990 (... vielleicht die erste und letzte) |
Ich bekam das winzige
Zimmer meines Freundes, des ehemaligen Organisten Georg Gsell, der mit seiner
Familie nach Wuppertal ausgewandert war. In der Kirche, wenige Schritte von der
Orgel (Odessa, 1912) entfernt, sollte ich ab jetzt wohnen: Eine Matratze auf
Brettern, ein schmaler Tisch, ein Regal – mehr passte nicht rein. Fenster zum
Hof hin. Bei gutem Wetter sah man, über das Weinlaub hinweg, die Berge
Tadschikistans. In jenem Zimmer habe ich zwei Monate lang, fast täglich, vor
dem Einschlafen überlegt, wie ich es anstellen könne, zumindest ein Jahr von
den drei vom Dresdener Bischof zugestandenen auszuhalten, um dann ohne mich zu
blamieren, nach Deutschland zurückzukehren. Nein, ich war tagsüber nicht
traurig. Noch im August führten wir die Religiösen Kinderwochen ein. Ich
begann, mit Tante Zhenja, einer flinken Oma, Kranke in der Stadt zu besuchen.
Sie lernte mir, grüne Gurken mit Honig zu essen und russisch zu sprechen. Das
war eine Katastrophe! Ich saß vor dem Fernseher um Nachrichten zu schauen, und
verstand kein Wort. Es ging mir alles zu schnell.
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Sonntagabend in Wachsch |
Regelmäßig war
ich am Sonntagnachmittag für die Außenstation eingeteilt: Kurgan-Tjube, 95 km
südlich. Und von da ging es dann am Abend zur dritten Messe nach Wachsch,
„unweit der afghanischen Grenze“, hieß es immer. Wenn ich so schreibe, fallen
mir Geschichten ein, die ein Buch füllen könnten, z.B. von der alten, armen
Frau, die freitags zu Hause aufbrach, um Sonntagnachmittag in Kurgan-Tjube zur
Messe zu sein. Wir sahen sie selten, hörten sie aber schnarchen, oben auf der
Empore. Oder vom Vetter Pius, dem Nachtwächter, der sich schämte, mit mir zu
essen, weil er nicht wusste, wie man Besteck in die Hand nimmt! Mir fällt die
Katze ein, die während meiner Predigt unter dem Priestersitz einschlief, die
Kuh, die an Mariä Himmelfahrt zur Kirchentür hereinschaute, die Hitze, die
Autos, die es darauf ankommen ließen und noch, als es schon ganz dunkel war, nur
mit Begrenzungslämpchen fuhren. Montags kehrte ich zurück, oft mit dem
Linienbus, einem alten rußenden Ikarus, wie es ihn in allen Ostblock-Staaten
gab, nur ungepflegter, als ich es gewohnt war. Ich war der einzige Ausländer,
schon beim Fahrschein Kaufen in der langen Schlange (bzw. Traube) vor der
Kasse.
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Fremde Welt. Beerdigung in Duschanbe: Die Verwandten sitzen mit dem Sarg auf der Ladefläche eines LKW |
Wir hatten manchmal
Gäste. War doch die Sowjetunion dabei, sich zu öffnen und – was sie selbst noch
nicht wusste – zu zerfallen. So lernte ich Leute von „Kirche in Not“ kennen,
und Norbert Laubstein aus Berlin. Pfarrer Rachwalski aus Leipzig kam, um
erstmals einen Exerzitienkurs für die (alle deutschsprachigen) Priester
Mittelasiens zu begleiten. Drei Erfurter Studenten kamen über die Berge zu uns
in den Talkessel der Stadt, die so groß wie Leipzig war, und wo Fotoapparate
und Thermometer noch Seltenheitswert hatten. Wenn draußen über 40 Grad im
Schatten waren, wurde es im Radio nie zugegeben, „damit die Leute nicht in
Panik geraten würden“, so erklärten es mir die einfachen Leute. Man könne es
aber sehen: „Wenn alle auf der Straßen langsam laufen, dann sind über 40 Grad“.
Mir fallen auch die drei oder vier Telefongespräche nach Deutschland ein, die
ich im Laufe des Jahres geführt hatte. Man musste drei Tage vorher zur Post das
Gespräch anmelden. Die gewünschte Minutenzahl war anzugeben. Und bezahlt wurde
im Voraus. Dann konnte es vorkommen, dass die Leitung nachts gegeben wurde:
„Hallo, sie haben nach Deutschland bestellt? Bleiben sie dran!“ Dann ging’s
los. Von einer Telefonistin zur anderen wurde durchgeschaltet. Es dauerte
einmal fast 30 Minuten, bis die Leitung stand. Statt nach bezahlten sieben
Minuten, konnte das Gespräch auch schon nach fünf Minuten zusammenbrechen. Das
war’s dann.
Kinder und
Jugendliche kamen gern zur Kirche. Als junger Kaplan aus Deutschland hatte ich
eine Menge Ideen, was man mit ihnen alles machen könne. Und es gab Ordensschwestern
in der Gemeinde, nicht nur in ziviler Kleidung, sondern auch in Zivilberufen. -
Ein letzter Hauch von Untergrundkirche. In der Gemeinde waren sie ehrenamtlich
tätig. Duschanbe hatte doch wohl die erste Kirche in der UdSSR, in der der
Priester am Altar mit dem Gesicht zur Gemeinde hin zelebrierte, also ohne zumindest
kleinen Hochaltar an der Wand. „Aus Duschanbe kommen Sie? Das ist doch da, wo
die Kirche keinen Altar hat“, meinte einmal eine alte, tiefgläubige Großmutter
in Kasachstan zu mir. Es gab Dinge, die ich den Leuten lernen konnte. Und ich
lernte von den Leuten.
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Erstkommunion 1990 in Woltschicha, Sibirien |
Im Oktober 1990
und zu Weihnachten noch einmal, flog ich zum Helfen nach Sibirien. Die
Flugzeuge, die nicht nach Moskau flogen, waren deutlich älter: Mit einer Tu-154
ging es über Alma Ata nach Novosibirsk. Ich lernte Tomsk kennen, wo gerade die
alte katholische Kirche an die neugegründete Gemeinde zurückgegeben worden war.
Links vorn saßen die Deutschen, rechts die Polen, hinten die Russen. Damit es
keinen Streit gab, war die Messe in Lateinisch. Das kam auch mir entgegen, denn
obwohl ich nie ein großer Lateiner war, fiel es mir leichter als die russische
Liturgiesprache. Eines Tages wurde ich mitten im Choral-Gesang des Glorias
(„Ehre sei Gott in der Höhe“) stutzig. Da war die ganze Gemeinde unbemerkt vom
Gloria ins Credo (Glaubensbekenntnis) gerutscht. „Halt!“ rief ich, „nochmal von
vorn.“
Oh, ich habe selbst nicht vorhergesehen, worauf ich mich mit dem heutigen
Brief eingelassen habe. So komme ich nicht vorwärts! Ich dachte nur, dass doch 25
Jahre ein Datum seien…! Kurz vor Mitternacht hole ich heute eine Jugendliche
vom Bahnhof ab, die zu Exerzitien anreist. Um es nicht zu verschlafen, habe ich
mich hingesetzt, und zu schreiben begonnen.
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Bischofsweihe von Joseph Werth - Ich war traurig, weil das für mich das Ende in Duschanbe bedeutete. |
Ein kleines
Erdbeben habe ich dort in Tadschikistan erlebt, und dann – im übertragenen
Sinne – ein großes: Pater Joseph Werth SJ, der Pfarrer in Marx, wurde zum
Bischof für Sibirien ernannt. Noch bevor davon gesprochen werden durfte, lud er
mich zum Weißen Sonntag 1991 nach Marx ein, damit ich mir seine Gemeinde anschaue.
Eigentlich wollte ich mich „anschauen“, scheint mir, ob ich passe, als
Nachfolger, wenn er nach Sibirien geht. Und so kam es! Einige Tage nach meiner
Rückkehr vom Besuch bei den Wolgadeutschen, brachte man mir aufgeregt die
„Izvestia“ (sowjetische Tageszeitung), worin zu lesen war, dass der Papst zwei
Bischöfe für Russland und einen für Mittelasien ernannt hätte. Alle freuten
sich. Nur ich nicht. Hatte ich Pater Joseph doch beim Abschied in Marx
versprochen, dass ich kommen würde, „falls er weg müsse“. Lange konnte ich es
keinem sagen, dass ich gehe. Noch auf manchen Fotos von Pater Josephs
Bischofsweihe am 16. Juni 1991 in der Moskauer Sankt Ludwigskirche kann man
sehen, wie traurig ich war, meine Wahlheimat Duschanbe aufgeben zu müssen. Von
Moskau flog ich nach Saratow – Marx. Wenige Monate später begann in
Tadschikistan ein Bürgerkrieg. Ich flog damals noch einmal hin, um einer
Schwester vielleicht lebensnotwendige Medikamente gegen Hepatitis zu bringen.
Auf dem Weg vom Flughafen zur Kirche, für den ich den Fußweg zwischen Garagen
und Schuppen wählte, riefen zwei Männer hinter mir „Stoj!“ (Halt!). Ich hörte
ein Geräusch, dass ich nur aus Filmen kannte: Einer der beiden entsicherte sein
Gewehr. Weil ich Ausländer war, ließen sie mich gehen.
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Pfarreinführung in Marx |
Am Tag meiner
Einführung als Pfarrer in Marx, wurden 154 Jugendliche und Erwachsene gefirmt,
von beiden Bischöfen Russlands: Thaddäus Kondrusewicz, der Ortsbischof, war aus
Moskau angereist. Joseph Werth, nun Bischof des asiatischen Teils Russlands,
half mir die ersten Schritte an der Wolga zu machen, bevor er nach Sibirien
ging. Dann war ich zum ersten Mal allein als Priester. Die größte
Herausforderung waren die Beichten junger Leute in russischer Sprache. (Ich
selber flog zum Beichten nach Moskau, anfangs für 2,50 DM. Aber es gab keine
Flugscheine. Man musste exakt 30 Tage vorher kaufen. Davor gab es noch keine, später schon keine Plätze mehr. Nur, wer ein Telegramm hatte, kam noch
kurzfristig mit, denn „Telegramm“ hieß: Todesfall in der Familie.) Einmal ließ
ich mir ein Telegramm aus Deutschland schicken, worin stand, dass unser neuer
Lada-Niva mit einem Transport von Berlin bis Moskau gebracht war und wir ihn
abholen könnten. Das Telegramm war in Deutsch geschrieben. Ich reichte den
Schnipsel eineinhalb Stunden vor Abflug durchs Fensterchen an der Kasse und
bekam mein Ticket.
Bei starkem Regen
auf der Rückfahrt von Moskau nach Marx brannte die Sicherung vom Scheibenwischer
des neuen Autos durch. Als ich endlich müde war, fuhr mein Beifahrer weiter,
der immer was von Verwandten in Wolgograd, direkt am Weg, murmelte. „Das sind
800 km weiter“, erklärte ich ihm. In Geographie kannte ich mich aus. Wir hatten
auch so schon 1.000 km zu fahren. Und Benzin war überall knapp. Mitten in der
Nacht wurde ich am Beifahrersitz wach und nahm einen Wegweiser nur halb wahr.
Ein paar Minuten später bat ich anzuhalten, übernahm wieder das Steuer und
kehrte erst einmal um. Wir hatten „versehentlich“ den Abzweig nach Osten
verpasst und befanden uns schnurstracks auf dem Weg nach Wolgograd.
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Kinder in einer Weihnachtsmesse in Marx |
Weihnachten mit
300 Kindern in der kleinen Kirche, und die Erwachsenen bei -22 Grad draußen vor
den Fenstern; 52 Außenstationen im Umkreis Tausender von Kilometern; die
Fahrten dorthin, und die Leute, die da auf uns warteten; der Kirchbau und eine
zweieinhalbjährige Gerichtsverhandlung, bei der jemand sein Geschäft mit uns zu
machen versuchte; die jungen, fröhlichen Ordensschwestern; die erschütternden
Erzählungen derer, die verschleppt, verhört, verhöhnt wurden, deren Eltern
„abgeholt“ und umgebracht wurden, und die mit nicht nachahmbarer Intonation aus
dem Philipperbrief zitierten: „Unsere Heimat ist im Himmel“ … Alles ist Grund
zum Innehalten, Erinnern und Danken. Ich habe wirklich sehr viel zu danken,
wenn ich auf die vergangenen 25 Jahre zurückschaue. Mein „Deutsches Büro“ - die
Eltern zu Hause, kann ich dabei nicht übersehen, und viele andere, die
Hilfswerke, die Bistümer Dresden-Meißen und Osnabrück. Ohne den Rückhalt aus
Deutschland wäre vieles nicht möglich gewesen.
Es hat sich viel
verändert. Die katholischen Deutschen – Grund meiner Entscheidung für die
Sowjetunion - die Jahrzehnte lang auf Priester gewartet hatten, sind gestorben
oder ausgewandert. Aber gerade am Anfang der 90-iger suchten viele Menschen,
wollten glauben, wollten beten und baten um Hilfe. Zwar wuchs die Zahl der
Priester und Ordensleute, die aus dem Ausland zu Hilfe kamen. Sie wurden aber
auch müde und kehrten irgendwann wieder heim, viele. Müde von den physischen
Belastungen der Diaspora, von der ganz anderen Einsamkeit, als sie sie gewohnt
waren, von einer oft schamlosen Unehrlichkeit im öffentlichen Leben, von den ständig
steigenden Preisen und dem angewiesen-Sein auf Spenden. Massive und anhaltende
Vorwürfe machten uns die Seelsorge jahrelang schwer, weil auch Russen zur
katholischen Kirche kamen. Es scheint hier in wichtigen Fragen nicht üblich, um
Verzeihung zu bitten. „Und warum sind Sie
noch nicht müde?“ wurde ich manchmal gefragt. „Wunderbare Menschen“ waren mein
Argument, aber manchmal – besonders in letzter Zeit – widersprach ich. Auch ich
sei müde, mitunter sehr. Ohne depressiven Beigeschmack, würde ich das gern –
wie man auf Neudeutsch sagt – so stehen lassen.
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Am Tag der Bischofsweihe, mit den Schwestern, denen ich viel zu verdanken habe |
Inzwischen bin
ich viel länger Bischof in Russland als ich hier Pfarrer war. Jene Veränderung
in meinem Leben hatte etwas Trauriges an sich, muss ich zugeben und vielleicht
auch ein wenig erklären. Ich wollte nie Bischof werden. Es brauchte ein paar
Wochen, bis ich es innerlich annehmen konnte. Ehrlich gesagt, fühle ich mich
auch heute, mehr als 17 Jahre nach der Weihe, noch nicht als Bischof, und ich
bin froh, dass ich weiterhin (auch) Priester bin. Aber ich habe nicht mehr
„meine“ Gemeinde, die – zumindest hier bei uns – so etwas wie eine Familie ist.
Hausbesuche, Beichten, gemeinsames Beten, erzählen, erziehen, Kranke besuchen,
… Das fällt im Bischofsleben ziemlich unter den Tisch, ob man will oder nicht.
Schade! (Ich sage das auch, um ein wenig Mitleid mit den Bischöfen zu wecken.)
Ein Vorteil ist es hingegen, dass Reisen im Bistum, aber auch mal nach Rom, zu
den Pflichten gehören. Das ist ein Privileg: überall auf der Welt Menschen
begegnen zu dürfen, die an Christus und sein Evangelium glauben, die sich Mühe
geben, menschliche Menschen, gute Christen, zu sein. Ich bin schon drei Päpsten
im Vatikan begegnet, aber auch einer gelähmten Mutter eines ständig betrunkenen
Sohnes, der sich nicht darum kümmerte, dass sie seit Monaten in schmutziger
Bettwäsche auf einem Sofa in einem Kaukasus-Dorf lag. Ich kenne unsere
Pfarrgemeinden im Bistum. Es sind 25 Städte, in denen Priester wohnen – auf
einer Fläche, die vier Mal größer als Deutschland ist. Grob gerechnet würde das
bedeuten: Stellen Sie sich ganz Deutschland vor, mit nur sechs Pfarrgemeinden,
… So kann man dann in etwa ahnen, wie weit die Pfarrgemeinden bei uns
auseinander liegen. (Natürlich, Deutschland hat andere Zahlen, andere
Strukturen. Aber einfach so, um die Entfernungen ein wenig deutlich zu machen,
die Mühen, das Alleinsein, das Benzingeld u.v.m. Auch die Frage, was denn dann
die Leute machen, die irgendwo dazwischen wohnen, wenn es Hunderte Kilometer
von einer Pfarrei zur anderen sind, lohnt sich gestellt zu werden. Ohne Auto,
ohne Kirchennachrichten, …)
Nun ist es soweit, die Jugendliche vom Bahnhof abzuholen. 27.07.2015,
23:00. Fortsetzung folgt.
Dienstag, 28.
Juli, wieder spät abends. So vieles habe ich ausgelassen, gestern beim
Schreiben! Und heute kann das nicht anders werden.
Wie ich die
Sprache gelernt habe (nach 6 motivationslosen Jahren Russisch in der sozialistischen
Schule), war interessant. 1991 saß ich vor jeder Messe mit Kindern auf einer
Bank vor unserem Bethaus in Marx und las ihnen schon mal probehalber das
Evangelium vor. Die Kinder zeigten mir, wo ich die Betonungsstriche setzen
sollte. Erst viel später begann ich zu begreifen, dass jene Kinder selbst nicht
wussten, wie man diese ganzen religiösen Wörter liest. Der christliche
Wortschatz war total weg! „Von Gott zu reden, ist gefährlich“, hieß das Buch
eines Untergrundpriesters. „10 Jahre Sibirien“ oder Schlimmeres konnte man
dafür bekommen. Das Übersetzen des sogenannten Weltkatechismus (Katechismus der
katholischen Kirche) ins Russische hat fast 10 Jahre, bis 2001 gedauert. Man
zog die religiöse Sprache des 19. Jahrhunderts heran, als man noch christliche
Gedanken in Russisch äußern durfte. Diese veraltete Sprache hatte sich bei
Theologen im Exil (Frankreich) über die Zeit der Sowjetunion hinüber retten
können. Gleichzeitig bat man moderne Natur- und Sprachwissenschaftlicher in
Moskau um ihre Übersetzung. Aus beidem wurde unser Katechismus, die Grundlage
der heutigen Sprache katholischer Kirche in Russland.
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Für die Katechese reichte ein Teppich |
Auch, weil ich
zuhören durfte, konnte ich lernen. Täglich war abends Katechese in einem der
Dörfer, 30 bis 50 km von Marx entfernt. Die Schwestern unterrichteten. Ich
hospitierte. Ohne Hilfsmaterialien und Technik, verstanden sie es, Groß und
Klein erzählend zu fesseln und zu bewegen. Ich habe viele echte Bekehrungen vom
Unglauben zum Glauben erlebt, letztlich in der Beichte, als einziger Priester
im Umkreis von Tausenden Kilometern.
Von Anfang an
habe ich Briefe geschrieben, Rundbriefe an Freunde und Verwandte. Erst mit
meiner Schreibmaschine, dann am Computer. Seit Juli 2009 setze ich, inzwischen
fast täglich, eine kleine Notiz über das Leben hier ins Internet, um Freunde zu
informieren (und „bei der Stange zu halten“). Manchmal tut es mir leid, dass
das alles irgendwie einseitig bleibt. Die meisten scheinen auf das angewiesen
zu sein, was geschrieben ist. Lesen zwischen den Zeilen erfordert Kenntnisse,
Weisheit, … ist eine Kunst. Und außerdem gibt es noch das, was ich auch
zwischen den Zeilen nicht sage, Ängste, Freuden, Gebet, …
„Was wollen Sie
unseren Lesern zum Schluss noch sagen?“, fragen Journalisten oft stereotyp.
Irgendwo muss ja auch ich zum Ende kommen. Ich habe diesen kleinen Brief gestern
zu schreiben begonnen, weil ich wirklich etwas sagen wollte: Ich bin Gott und
vielen Menschen von Herzen dankbar, einigen ganz besonders, dass ich diesen Weg
geführt und begleitet wurde und ihn schon 25 Jahre gehen darf.
Übrigens: Als ich
meinem Regens im Priesterseminar Mitte der 90-iger einmal sagte, dass ich
vielleicht später als Priester in die Mission gehen möchte (ich dachte an
Tansania), antwortete der mir messerscharf: „Sie werden Priester in der DDR,
oder sie werden überhaupt nicht Priester.“ (So hatte man damals Angst, dass die
jungen Leute alle nur raus wollten.) Ich ging mit kalten Händen aus seinem
Zimmer. – Erst nach der Priesterweihe meldete sich der Herr wieder zu diesem
Thema. Und er präzisierte: Nicht um Tansania gehe es, sondern um die UdSSR.
Ich möchte also
DANKE sagen. Und ich möchte auch bitten, für unsere kleine Kirche und mich. Vor
25 Jahren war es einfacher hier. Wir sind eine „Mini-Struktur“, auch wenn sich
das Ganze kirchenrechtlich gesehen „Diözese“ nennt. Wir sind und bleiben
angewiesen auf Hilfe, Verständnis, Interesse, Gebet, auf Freundschaft, die
tiefer ist als Partnerschaft zwischen Institutionen. Ich bin Priester, um
Menschen zu helfen, Gott mit „Du“ anzusprechen und bei ihm zu Hause zu sein,
auch wenn er schweigt. Und nochmal „übrigens“: Ich bin hier in Russland
Priester geworden, drei Jahre nach meiner Priesterweihe. (Wem das zu paradox
klingt, der muss es vielleicht nochmal lesen.)
Natürlich werde
ich mich am Samstag an den Beginn vor 25 Jahren erinnern. Es wird während eines
Exerzitienkurses für Jugendliche sein, die es ernsthaft erwägen, ihr Leben Gott
in die Hände zu legen. So etwas gibt es, heute, hier… Ach, schade, aber irgendwo muss ich Schluss
machen.
Der Herr möge
jedem von uns seinen Weg zeigen, Stück für Stück;
und er möge uns
beschützen, ziehen, schieben und manchmal ausruhen lassen;
er sei der
Frieden und die Freude auf dem Grund unserer Herzen!
Ihr Clemens
Pickel