Freitag, 20. Dezember 2019

Schlüssel zum Vertrauen


Auch wenn es nur noch einige Tage bis Weihnachten sind, wird das hier kein spezieller Weihnachtsgruß. Es geht mir um etwas anders, etwas, das mich beunruhigt, (besorgt oder gar traurig macht). Ich habe versucht, mich während ein paar stiller Urlaubstage in Deutschland da hinein zu vertiefen. Zur Ruhe bin ich nicht gekommen. Es geht um den sogenannten Synodalen Weg. Kein Traktat will ich schreiben, sondern einen einfachen, immer noch spontanen, Brief zu diesem Thema.

Einerseits wird es der Blick eines Außenseiters sein, denn ich lebe seit fast 30 Jahren in Russland. Andererseits bin ich in Deutschland geboren, habe dort Theologie studiert. Und schließlich, sind wir eine Kirche.

Schön deutsch erklärt, hat jene „strukturierte Debatte“ schon ihren Platz in Online-Lexika gefunden. Es geht um „vorerst“ zwei Jahre, in denen man (nein, nicht „man“, sondern katholische Kirche in Deutschland) Vertrauen zurückgewinnen will, das durch den Missbrauchsskandal verlorengegangen sei. Die statistische Kurve der Kirchenaustritte hatte sich jedoch weit früher und immer steiler nach oben geschwungen, womit ich nichts am genannten Skandal schönreden will. Man glaubt der Kirche schon lange nicht mehr, nimmt aber gern ihre sozialen Dienste in Anspruch. Der „praktische Atheismus“ ist eine Erscheinung des Westens. Es ist gut und gar lebensnotwendig, nach den Ursachen zu suchen, aber es wäre unehrlich und von Neuem erniedrigend, wenn man längst gehegte Ziele nun im Eilverfahren auf den Rücken der Missbrauchsopfer durchprügeln wollte. (Eine so ähnliche Formulierung las ich vor zwei Wochen in einem eindringlichen Kommentar.)

Themenschwerpunkte des Synodalen Weges gibt es vier. Um sie geht es nicht nur dem Küster, den ich in einer deutschen Sakristei nach einem Gottesdienst sagen hörte: „Hoffentlich kommt dabei nun endlich etwas heraus.“ Ihm zu antworten, dass Kirche für mich eine „semper reformanda“ (eine sich ständig erneuernde) sei, hätte wenig Sinn gehabt.

Seine Vorstellung von Kirche entsprach den dicken Sandsteinwänden, die uns dort umgaben. Wenn du sagst, dass Bekehrung nötig sei, damit sich etwas ändern kann, macht dich das zum alten Gebetbuch, das eher Platz in einer quietschenden Schublade oder im Papierkorb findet, anstelle von Gehör.



Es geht also um Macht und Gewaltenteilung, um priesterliche Existenz heute, um Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche, wie um Leben in gelingenden Beziehungen. Und alles. Sind das die großen Fragen der Kirche und an die Kirche – die Schlüssel zum Vertrauen?

1. Macht und Gewaltenteilung

Gott ist allmächtig. Daran wird keiner rütteln wollen, theoretisch, theologisch, jedenfalls. Und in der Praxis? Wie sieht es z.B. aus mit der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“, im Alltag?

Ja, es geht um etwas anderes. Aber doch hoffentlich nicht um machtgierige klerikale Gestalten aus dem Kino? Ich bin von Kindheit an vielen guten, intelligenten, frommen, ehrlichen Priestern begegnet. Und ich bin sicher nicht der Einzige, der gute Erfahrungen gemacht hat. Ich möchte Gott auch jetzt für diese aufrichtigen Männer danken, für deren Väterlichkeit und Freundschaft, für deren Aufmerksamkeit und besonders dafür, dass sie mir geholfen haben, Gott zu hören, ihn zu verstehen, ihm zu vertrauen und ihm „ja“ zu sagen.

Ich weiß, immer wieder wird hier der Einwurf kommen: „Aber die Missbrauchsfälle!“ - Ja. Abermals ohne verwischen zu wollen, erinnere ich mich an einen Vergleich: „Priester sind wie Flugzeuge. Solange sie fliegen, spricht keiner davon. Wenn aber eins abstürzt, dann weiß es noch am selben Tag die ganze Welt.“ Wir dürfen uns nicht dahinter verstecken, aber es zu übersehen, wäre fatal für die Zukunft: Der Missbrauch ist kein speziell kirchliches Problem, sondern eins der ganzen Gesellschaft.

Welche „Macht“ sollte den Priestern, den Bischöfen, dem Papst genommen werden, damit sie weniger falsch machen? Und wem soll sie gegeben werden? Im Deutschland des 21. Jahrhunderts? (Mit dem Schutz Minderjähriger vor Gewalt und sexuellem Missbrauch beschäftigt man sich ja seit Jahren auf anderen, professionelleren Ebenen, weltweit.) Geht es letztlich doch um eine deutsche demokratischere Kirche? Um Arbeitsplätze? Mit Vergleichen wie dem von fehlerhafter DNA der Kirche, konnte ich mich nicht anfreunden. Wenn wir Gott aus dem Spiel lassen, dann haben wir verspielt. Gegen Entlastung habe ich nichts. Und wenn wir gemeinsam beten, ist unser Gebet „mächtiger“, als wenn wir das den Priestern und Ordensleuten allein überlassen. Wer da sagt, „es muss sich aber etwas ändern“, hat recht.

2. Priesterliche Existenz heute

Ein schönes Thema. Um Priester werden zu können, (ich bin es etwa drei Jahre nach meiner Priesterweihe geworden), kommt man nicht um die Freundschaft mit Gott herum, sonst ist man Ideologe, Funktionär, Manager oder/und einfach: unglücklich. Ich kann nicht das Hauptgebot predigen, ohne mich selbst ernsthaft darum zu bemühen, Gott den ersten Platz in meinen Beziehungen zu geben. In Russland habe ich Menschen kennengelernt, deren (wir Deutschen haben die Formulierung nicht so gern) Liebe zu Gott mich beschämt hat. Das waren und sind Laien! Eben solche Erfahrungen, eben diese Laien, haben mir geholfen, Priester zu werden. Klagt nicht über die Priester, während ihr auf das allgemeine Priestertum pocht! Helft ihnen. „Einer trage des anderen Last!“ (Gal 6,2)

Ja, ein Priester, dessen Gottesbeziehung nichts mit Freundschaft zu tun hat, wird andere Freunde an Gottes Platz rücken lassen oder griesgrämig, geizig und einsam werden. Jedenfalls kann er nicht zu Gott begleiten, wenn der ihm in der Seele nichts wert ist. Dann wird Kirche zum Verein, nett, sympathisch, überflüssig.

„Lasst die Priester doch endlich heiraten, dann gibt’s wieder welche!“ Wirklich? In Russland gibt es katholische Priester des lateinischen Ritus, wie in Deutschland. Die sind unverheiratet und leben im Zölibat. Und es gibt katholische Priester des byzantinischen Ritus, verheiratet.

Praktisch können unsere Seminaristen wählen. Und trotzdem studieren zurzeit für ganz Russland nur 8 junge Männer im einzigen katholischen Priesterseminar des Landes. Woran liegt’s? Ich komme zurück auf das oben Gesagte. Wir (alle) müssen lernen zu sein, wozu uns Christus berufen hat: seine Freunde (vgl. Joh 15,15).

Ist Eile geboten? Ja. Aber in der richtigen Richtung. Müssen wir suchen, wen wir „noch“ zu Priestern weihen könnten, damit wieder flächendeckend Eucharistie gefeiert werden kann? … damit es nicht erst zur Entfremdung der katholischen Christen von der Eucharistie kommt?

Mein Eindruck bei Deutschlandbesuchen ist der, dass die Entfremdung längst stattgefunden hat. Das Niveau vieler Erstkommuniongruppen und der „Kommuniongang“ in den Gottesdiensten sprechen Klartext. Möge die Notiz in einem Pfarrblatt nach der Erstkommunion eine Ausnahme sein: Kinder äußerten sich über das Fest, unter anderem ein Mädchen, das die Musik toll fand und dem das Brot, dass sie zum ersten Mal essen durfte, megakomisch geschmeckt hat.

Ich komme noch einmal auf meine Erfahrung in Russland zurück, wo Christen jahrzehntelang darauf gewartet hatten, oder auch Tausende Kilometer reisten, um endlich wieder einmal die heilige Kommunion empfangen zu können. Und da war nichts von Entfremdung, im Gegenteil. Warum?

3. Die Frauen in den Diensten und Ämtern der Kirche

Ja, Frauen spielen eine große Rolle im Leben der Kirche, auch in Russland. Jedoch den Aufstand zu proben und mal ein paar Tage (evtl. einschließlich Sonntag) nicht zur Kirche zu gehen, damit die Männer sehen, wo sie dann bleiben, entspricht eher den törichten als den klugen. Für mich bedeutet „zur Kirche gehen“ – „nach Hause kommen“. Wenn sich heranwachsende Geschwister nicht verstehen und deshalb nicht nach Hause kommen, vergessen sie möglicherweise, dass da noch jemand ist, der auf sie wartet. Ich will hier nur kurz auf das Thema eingehen. Schreibe ich doch keine theologische Abhandlung.

Dass Frauen nicht zu Priestern geweiht werden, gehört klar zur Lehre der katholischen Kirche. Die scheinbar offene Frage betreffs Diakonenweihe für Frauen, … wo hat die ihren ehrlichen Grund? In der Theologie gibt es die sogenannte Gnadenlehre. Frauen bekommen nicht weniger Gnade von Gott als Männer, auch wenn sie nicht geweiht werden. Eine war sogar schon mal „voll der Gnade“ und wurde Königin der Apostel.

Keiner der Zwölf kam auf die Idee, um Gleichberechtigung zu kämpfen. Verzeihung! Ich will das Thema nicht ins Lächerliche ziehen. In den fast 30 Jahren, die ich jetzt in Russland lebe, habe ich weit mehr Babuschkas und junge Frauen erlebt, die anderen den Glauben weitegegeben haben, als es Männer taten. Keine von diesen treuen und im Herzen frohen Frauen hat sich zur Weihe berufen gefühlt, auch wenn manche von ihnen in einem heiligen Sinne „neidisch“ auf die Priester waren.

4. Leben in gelingenden Beziehungen

Misslungene menschliche Beziehungen verursachen Schmerz. Je mehr man sich dem anderen geöffnet hatte, umso tiefer der Schmerz. Behutsamkeit und Klarheit sind in der Begleitung gefordert, menschliche Reife, Mit-Leid, begründete Hoffnung, Geduld u.v.m.

Ich hoffe, es geht bei jenem Themenkreis nicht um einen Ersatz für Ehe (zu der Mann und Frau gehören) und christliche Familie (zu der Vater, Mutter und Kinder gehören). Im Urlaub der vergangenen Tage las ich, dass der Gesundheitsminister mit wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Homosexualität aufwartete, denen zufolge dieses Phänomen keine Krankheit sei. Wenn man unter Krankheit versteht, was man medizinisch behandeln kann, hat er möglicherweise recht. Aber was ist Homosexualität dann? Keine Krankheit, also normal? Das wäre dann doch wohl ein Kurzschluss. Es gibt viele Menschen, denen die Medizin nichts helfen kann und die gerade deshalb unsere Solidarität, und keinesfalls Erniedrigung verdient haben, weil sie mit einem Defekt der Natur leben müssen. Richtig, ich bin kein Naturwissenschaftler.

Was mich skeptisch macht, ist dann vielleicht auch ein Teil meiner Lebensgeschichte, in der man „wissenschaftlich“ versucht hatte zu begründen, dass es Gott nicht gäbe. Ein Scherz jener Zeit beleuchtet es noch einmal von einer anderen Seite her: „Wissenschaftler haben festgestellt, dass Rauchen doch nicht gesundheitsschädlich ist. Gezeichnet Dr. Marlboro.“


Liebe Freunde und Verwandte, einer der deutschen Bischöfe hat Anfang September so oder ähnlich gesagt: Er wolle nicht die Fehler wiederholen, die andere schon gemacht hätten. Überhaupt schien mir beim Lesen der Meldungen über den Synodalen Weg, dass die Bemerkungen und Befürchtungen der sich kritisch äußernden Bischöfe, konstruktiv sind, allen voran, Papst Franziskus mit seinem Brief vom 29. Juni 2019, den er an die Katholiken in Deutschland geschrieben hatte.

Vielleicht, oder hoffentlich, täusche ich mich, wenn mir scheint, dass, während sich „pro“ und „contra“ als Gegner profilieren, weder die einen, noch die anderen begonnen haben, inständig um Einheit (Joh 17, 21) zu beten. Das würde der Politik gleichen, in der eine gemeinsame Koalition nur am Ende als Notlösung akzeptiert wird, wenn man den anderen nicht besiegen konnte.

Vertrauen wiedergewinnen wird man nicht mit Papieren, weder nach zwei noch nach 20 Jahren. Es geht nicht ohne Menschen, Freunde Gottes, der vollkommene Liebe ist. „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe. Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, ...“ (1 Joh 4, 8-9)

Und damit wären wir bei Weihnachten angekommen. Nein, angekommen sind wir, wenn uns der Weg zu ihm geführt hat. Das schwierigste Wegstück lag vor den drei weitgereisten Gelehrten aus dem Morgenland, sagte Benedikt XVI. beim Weltjugendtag 2005 in Köln, als sie sich bücken mussten, um in den Stall einzutreten. Dann beteten sie Jesus an. Vielleicht kümmert er sich darum, dass man uns wieder von Grund auf vertraut, wenn wir ihm von Grund auf vertrauen?

Wenn wir im Stern von Bethlehem das Licht des Heiligen Geistes erkennen, dann möge er es sein, dessen Erscheinen uns mit Freude erfüllt und der uns den Weg zeigt.

Frohe Weihnachten!
Euer (Ihr) Clemens Pickel


Saratow, am Jahrestag meiner Diakonenweihe, 19.12.2019

P.S. Alles nicht so einfach.
Postwendend habe ich Reaktionen auf meinen Brief erhalten, von erschöpft bis aggressiv, worin ich auch ein Spiegelbild der Kirche ahne, welcher ich in den vergangenen Wochen in Deutschland begegnet bin. Vom leeren Akku bis zum Hochspannungskabel – alles dabei. „Da hilft nur noch beten“, ist nicht die richtige Formulierung. Dass es aber an der Zeit ist, es endlich (wieder?) zu lernen und täglich zu tun, daran zweifle ich schon lange nicht mehr. Ich will mir Mühe geben.