Es wird kürzer werden, als ich eigentlich möchte, denn –
es gibt anderes zu tun, es ist gar nicht so wichtig, wenn man es objektiv
betrachtet, sogar langweilig, auch wenn Amerikaner mit freundlicher Stimme
sagen würden: „It’s so crazy!“ – Kurz, worum geht’s? Einfach Alltag.
Zweieinhalb Stunden des 26. Februars 2014.
Um 10.00 Uhr sollte mein Gast mit gepackten Sachen und
nicht mehr eingestecktem Wohnungsschlüssel bereit zur Abfahrt stehen. Bei
strahlender Sonne und minus 15 Grad, öffnete ich den verkrusteten Kofferraum. –
Die Autowaschanlagen in Saratow sind auf Tage im Voraus ausgebucht. Pater
Matthäus warf sein Köfferchen hinein. Trotz seiner 150.000 km und 6 Jahre im
Freien, startete der Motor sofort. Zum Bahnhof sind es keine 15 Minuten, wenn
man sich Mühe gibt. Hinten im Auto saß Schwester Jolanta, um die Post
abzuholen. Wir haben unser Postfach neben dem Bahnhof. Beide Schwestern, die
jetzt bei mir im Büro arbeiten, haben keinen Führerschein. Zweimal in der Woche
fährt eine von beiden mit dem Oberleitungsbus die Post holen. Das dauert nicht
weniger als anderthalb Stunden. Und wenn Pakete kommen, wird es schwer,
gewichtsmäßig und überhaupt. Die Post trägt Pakete nicht aus.
Am Bahnhof gibt es viel zu wenig Parkplätze. Man dreht
ein paar Runden um die schneebedeckte Rasenfläche, auf der eigentlich ein
Parkhaus stehen könnte, und in 10 Jahren wird da eins stehen, und hofft, dass
einem ein Parkender direkt vor der Nase seinen Platz frei macht. Heute war es hoffnungslos.
Hinter je drei am Straßenrand quer zur Fahrtrichtung Stehenden, parkte einer in
Fahrtrichtung.
An der Einfahrt zum posteigenen Parkplatz, ganz dicht
neben der Bahnhofshalle, steht ein Polizist. Früher ließ der durch, wenn man
sagte: „zur Post“. Es hat sich leider zu sehr rumgesprochen. Zu viele haben
gelogen. Er lässt keinen mehr durch, weder Gute noch Böse. „Ich steige aus und
sie fahren heim“, meinte Pater Matthäus. „Die Schwester will zur Post“,
antwortete ich, und lenkte in Richtung Sperrfläche, an der sich die Straße am
Ende des Bahnhofsvorplatzes nach rechts und links teilt. Da war eine Lücke
frei. Die Schwester lief zur Post, ich mit dem Pater zum Bahnsteig.
Der von Astrachan kommende Zug (also schon 13 Stunden
unterwegs) stand schon da und hatte noch 26 Stunden vor sich. Pater Matthäus
will bis zur Endstation: nach Sankt Petersburg. „Dort sind schon Plusgrade,
aber keine Sonne.“ Es klang, als ob ihm Sonne und Frost besser gefielen.
Schwester Sveta, die für die Küche sorgt, hatte unserem Gast einen Beutel mit
überbackenen Broten, Tütensuppen, Teebeuteln, Gebäck, Obstsaft, einer Tasse und
Besteck zurecht gemacht. Kochendes Wasser gibt’s im Zug. Mit scharfem Wind ins
Gesicht, schritten wir die Wagons am glatten und in Richtung Gleise abschüssigen
Bahnsteig entlang. „Saubere Wagen!“ freute ich mich mit dem in Kürze
Zusteigenden. Nur die letzten beiden Wagons machten einen schäbigen Eindruck.
Einer davon war seiner. „Ein richtiger Ordensmann“, dachte ich. Er hatte sich
den billigsten Wagen ausgesucht, einen Liegewagen mit 50 harten Liegen, ohne
Zwischentüren, wie eine große Baracke. Unten vor den hohen Stufen, stand der
Wagenbegleiter. „Pass, Fahrkarte“, bat er. Zitternd zog der Pater die Papiere
aus seiner Sommerjacke. Er hatte nicht erwartet, dass es 1.400 km südlicher 20
Grad kälter sein würde, als in der nördlichen Hauptstadt Russlands. Dann
jonglierten wir uns nach oben. Es gibt ein Geländer, aber das will nie jemand
anfassen. Ich glaube, es gibt keine sauberen Geländer bei der Eisenbahn. Vor
dem Eintritt in das Massenquartier passiert man den Kohleofen, der für
Beheizung des Wagens sorgt. (Wenn sich die Schaffner verrechnen und unterwegs
nicht am richtigen Bahnhof Kohle kaufen, kann es passieren, dass dein Wagen zum
Kühlschrank wird, und du …) Nächster Hammer: die Brillengläser beschlagen.
Ausgerechnet da, wo der Gang am engsten ist und sich Begleitpersonen wieder zum
Ausgang drücken, bremsen Brillenträger im Winter den Verkehr in beiden
Richtungen. Dann die Frage: Wer weicht wohin aus? Links drückt es dich gegen
die Toilettentür, die du auch ohne Brille, mit der Nase gefunden hättest.
Rechts kocht und zischt der hitzestrahlende Samowar für den Tee. Alles klärt
sich in solchen Momenten ungewöhnlich freundlich, falls keiner betrunken ist.
Das Gefühl, dass sich hier Menschen auf die Reise begeben, macht einfühlsam.
Ich glaube, Bahnreisen haben in Russland häufiger mit Abschied für lange zu
tun, als im Rest Europas.
Ich begleitete Pater Matthäus noch bis zu seiner Liege.
„Oben“ war sein Platz. Unten hatte es sich ein Rentner-Ehepaar doch wohl schon
gestern Abend gemütlich gemacht. „Oh, wir bekommen Besuch“, meinte sie zu ihrem
Mann. „Angenehme Leute“, dachte ich. Dann verabschiedete ich mich. Der Pater
bat vor allen Leuten um einen Segen.
Raus aus dem Bahnhof, eilte ich die abschüssigen 100
Meter zum Auto. Die Schwester war noch nicht von der Post zurück. Ich begann,
die freien Minuten für Dienstgespräche am Handy zu nutzen. Plötzlich hielt ein
Polizeiauto, vier Fahrzeuge weiter, ganz am Ende der Straße-teilenden
Sperrfläche. Drei Beamte stiegen aus. Zwei begannen, die Papiere anwesender
Fahrer zu kontrollieren, einer fotografierte. Da war ich ja gerade noch richtig
gekommen. Ich setzte zurück und reihte mich in die langsam kriechende Schlange
der kreisenden Parkplatzsucher ein. Nach zwei Runden kam Schwester Jolanta.
Wieder hinten einsteigend, bat sie, zu einem anderen Postamt zu fahren. Dort
sei ein 10-Kilo-Paket für mich abzuholen. Schwester Jolanta ist neu. Sie weiß
nicht einmal, wo sich jenes Postamt befindet. Ich kenne es gut: das
Zollpostamt…
Wir traten ein. Keine Kunden! Keine Warteschlange. Eine
der kleinen, unerwarteten Freuden im Alltag! Ich legte die Benachrichtigung auf
den Schaltertisch. Die ärmlich gekleidete Dame dahinter war mit handschriftlichen
Einträgen in ein großes Buch beschäftigt, aber sagte schon nach kurzer Zeit:
„Einen Moment bitte!“ Ein Hauch von Kultur im Umgang mit Kunden! Die Atmosphäre
machte beinahe fröhlich. Dann das Problem: Sie fand keinen Vermerk über mein
Paket in ihrem dicken Buch. Und endlich entdeckte sie das Eingangsdatum auf dem
Benachrichtigungszettel, den Schwester Jolanta vor 10 Minuten im anderen
Postamt bekommen hatte. „Das ist ja vom 26. November“, sagte sie in einem
Super-Gemisch von Vorwurf, Freundlichkeit und Selbstverteidigung. – „26.11.,
kann doch nicht sein!“, dachte ich und zeigte mit dem Finger wie ein Bagger in
die Baugrube, über den Schaltertisch, auf den Poststempel des Zettels in ihrer
Hand: „Und hier steht 19. Februar 2014.“ – Sie ging in den Lagerraum. Ich
bemerkte, dass es dann heute genau drei Monate her sein muss, seit das Paket in
Saratow eingetroffen war. „Sicher ein Weihnachtspaket! Und wenn da Lebensmittel
drin sind?!“ - Schon kam die Postfrau zurück. „Nichts. Das ist schon abgeholt“,
sagte sie. Während Schwester Jolanta und ich für kurze Zeit sprachlos
überlegten, ob wir nun gehen sollten, rief eine zweite Angestellte, die
unsichtbar hinter einer Ecke im Postamt arbeitet: „Wie ist der Familienname?“ –
„Pikk-el“, antwortete die Kollegin. „Das Paket ist da“, kam die Antwort, und
mit ihr – die Angestellte. Auch sie eine junge Frau im alten Trainingsanzug,
als ob sie im Schrebergarten arbeiten wolle. Sie betrat den gleichen Lagerraum
und zerrte das 10-Kilo-Paket in einem Postsack heraus, hievte es auf die Waage,
von wo aus wir Zugriff hatten. Ich wollte es schon in die Hände nehmen, da sagt
die Zweite zur Ersten: „Der hat noch eins.“ Ich fühlte mich wie im Kabarett und
konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Das liegt auch schon ewig da“, war
ihr nächster Satz. „Weder benachrichtigt, noch zurückgeschickt. Was soll das!“
– Wahrscheinlich macht mir Unlogik nicht mehr so viel Kopfzerbrechen wie zu der
Zeit, als ich hier neu war. Aber dass ich mich daran gewöhnt hätte, kann ich
auch nicht sagen.
Ich füllte den pro forma Benachrichtigungsschein aus.
„Hoffentlich merken die nicht, dass meine Wohnanschrift und die auf dem Paket
nicht übereinstimmen. Das gäbe neue Probleme!“ Nein, sie merkten nichts. Sie
waren wirklich freundlich, die beiden. Ob das mit der halb heidnischen –, halb
christlichen Woche vor der Fastenzeit zusammenhängt, der sogenannten
„Masleniza“? Da bekäme ja „Friede, Freude, Eierkuchen“ einen echten Sinn! – Wir
verließen das Postamt mit zwei großen, schweren, staubigen Paketen im Rettungsschwimmergriff
und stellten sie auf dem Glatteis des Fußwegs wieder ab. „Da habe ich aber
Glück, dass ich heute nicht mit dem Bus zum Bahnhof gefahren bin“, bemerkte
Schwester Jolanta beim erneuten Öffnen des Kofferraums. Nach zweieinhalb
Stunden erreichten wir den Hof hinter unserem Hochhaus und versuchten in Ruhe
herauszufinden, woher die Pakete kamen. Beide hatten den gleichen Absender: ein
Ehepaar in Deutschland, das einen Verein gegründet hat, der gute, nützliche
Sachen zusammenträgt, bzw. kauft und in osteuropäische Länder verschenkt.
Ausgesprochen gute und nützliche Sachen! Textilien, Spielzeug, Schreibwaren, …
„Wir schleppen die Kisten nicht hoch in den 6. Stock. Ich nehme sie morgen mit
nach Marx“, sagte ich zur Schwester. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie viele
Große und Kleine es dort und in den Dörfern gibt, die sich darüber freuen
werden.
Kaum war ich zu Hause, kam der nächste Gast, Pater Artur
aus Togliatti. Er hatte „nur“ 6 Stunden bis nach Saratow gebraucht, mit dem
Auto.
In meiner anfänglichen Befürchtung lag auch ein stilles
Versprechen, mir gegenüber. Briefe schreiben ist nicht meine oberste pastorale
Pflicht. Ich werde schnell noch einmal durchlesen, was nun aufs Papier gekommen
ist, und dann Schluss für heute und ab die Post!