Samstag, 5. Juni 2010

Auszüge aus einem Brief an Freunde


Saratow, den 2. Juni 2010

Liebe Freunde in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich und in Tschechien!

Im letzten Winter habe ich oft und lange im Büro gesessen. Die vielen Reisen seit Frühlingsbeginn machen nun den Eindruck von Nachholbedarf. Wochenende für Wochenende befinde ich mich in einem anderen Winkel des Bistums. Zu Hause komme ich kaum dazu, die Tasche auszupacken, da brauche ich sie auch schon wieder von neuem. Es ist wichtig, die Gemeinden im Bistum zu besuchen, auch wichtig für die Seelsorger, die sich in unserer russischen Diaspora nach Kräften mühen, und doch oft nur der „eine“ sind, der sät, bevor irgendwann ein anderer kommt, der erntet.

Ich versuche es erst gar nicht, von jeder meiner Reisen der letzten Wochen zu schreiben. Die vom vergangenen Sonntag möge als Beispiel dienen: Ich war nach Kabardino-Balkarien eingeladen. Das ist eine der kleinen, unruhigen Kaukasusrepubliken (etwas kleiner als Thüringen, 890.000 Einwohner) im Süden meines Bistums. Wir haben dort drei Gemeinden: eine in Naltschik, der Hauptstadt der Republik, eine in Prochladny, die mehr als 20 Jahre existiert, und eine im Dorf Blagoveshenka, wo seit einigen Jahren kontemplative Schwestern der Gemeinschaft des heiligen Johannes leben. Alle drei Gemeinden werden von Pater Laurent als Pfarrer betreut. Vorher war er Pfarrer in Orleans (Frankreich). Ihm steht ein rumänischer Priester zur Seite, Pater Dan, und Bruder Karl-Emanuel aus dem Elsass. Er wird am 3. Juli in Ars zum Diakon geweiht. Außerdem gibt es in Naltschik vier Schwestern der Gemeinschaft von Mutter Teresa, die kein geringes Ansehen unter der muslemischen Bevölkerung genießen, denn ihre tätige Nächstenliebe übersteigt die gängige Vorstellungskraft.

Im Vergleich zur Region an der mittleren Wolga, wirkt die Vegetation am Fuß des Nordkaukasus üppig und einladend: Hohe Bäume, zwei Ernten im Jahr, Weinanbau, Singvögel, Sonne und Regen wechseln sich ab. Dennoch liegt ein ungewisser Schatten über der Zukunft der hier Lebenden. (…)

Am Freitagnachmittag landete ich 10 nach 5 in Naltschik. Um 6 sollte schon die Messe sein. Am Flughafen war kein Personal zu sehen. Ich suchte den Weg durch das Ausgangslabyrinth und fand Pater Laurent am Parkplatz. Die Abendmesse in der Kapelle der Pfarrei St. Josef, einem großen Raum im 1. Stock eines Wohnhauses, begann pünktlich. Viele waren gekommen, denn es sollte die einzige Bischofsmesse in der Pfarrei bleiben. Den größten Teil des Samstags verbrachten wir im Dorf Blagoveshenka. Am Sonntag war Firmung in Prochladny.

Nach der Abendmesse am Freitag trafen wir uns im Raum neben der Kapelle mit allen, die gern wollten. Ich sah neue Gesichter. Die Leute erzählten von sich. Eine lettische Frau war in den 30 Jahren, in denen sie keine katholische Kirche in Russland fand, treu zur orthodoxen gegangen. Dann hörte sie eines Nachts im Traum die Worte „Con“ und „Geh!“ Sie wurde wach, wunderte sich und träumte das gleiche nochmal. Am nächsten Tag hörte sie, dass sich irgendwo in der Stadt Katholiken versammelten. Sie fand die Kapelle und … nach ihren Worten … wäre fast in Ohnmacht gefallen, als sie hörte, wie der Pater hieß: Con Doherty. – Der Begründer des eigenen Fernsehens der Republik hatte seine Familie verloren, erst die Frau, dann die Söhne. Er selbst wurde zum gehbehinderten, bettelarmen, einsamen Invaliden, bevor er die Schwestern Mutter Teresas traf. Ein anderer war, wie viele, zum Alkoholiker geworden und lag im Winter auf der Straße, wo er sich die Zehen erfror. In diesem Zustand lasen ihn die Schwestern von Mutter Teresa auf. Er musste amputiert werden. Nach seiner Entlassung nahmen ihn die Schwestern auf, wechselten regelmäßig die Verbände und pflegten ihn. Er erzählte, wie ihm eine der Schwestern sagte: „Wenn sie etwas auf dem Herzen haben, was sie mir nicht sagen können, … sagen sie’s ihm.“ Und sie zeigte auf ein Kreuz an der Wand. Er fühlte sich fast zum Narren gehalten. Später versuchte er es zweimal, ohne Erfolg. „Dann ging‘s“, erzählte er weiter. Und von da an spricht er mit Jesus. Viel! Er ließ sich auf den Namen Josef taufen. Und am vergangenen Sonntag habe ich ihn gefirmt.

Ich frühstückte am Samstag nach der Messe in deren Kapelle mit den Schwestern von Mutter Teresa. In der Begegnung mit solchen Menschen kann man verstehen, wie groß der Unterschied zwischen „Beruf“ und „Hingabe“ sein kann, wieviel Einsatz nötig ist, um einem einzigen Menschen zu helfen, damit seine Seele gesund wird. Unsere sozialen und auch pastoralen Projekte bleiben zu oft an der Oberfläche. Auch sogenannte „Tiefenpsychologie“ bleibt oberflächlich, wenn wir Seelsorger nicht beten.

Dann fuhren wir also nach Blagoveshenka, bogen an der o.g. Kreuzung ab und trafen am einzigen kontemplativen Kloster im Bistum St. Clemens ein. Beim Mittagessen erzählten mir die Schwestern von ihrer Arbeit. Von Blumen bis Kartoffeln bauen sie alles selbst im großen Garten an. Zum Gebet kommen Kinder und Erwachsene aus dem Dorf in die Kapelle der Schwestern, weil sie sich hier wohl fühlen. Auch in Blagovshenka trinken die Leute. Der Alkohol macht sie und ihre Familien kaputt. Obwohl das Klima und die gute Erde zur Landwirtschaft einladen und niemanden zum Hungern verurteilen können, bringen es viele nicht fertig, diese natürlichen Gegebenheiten zu nutzen. Pater Laurent hatte einer Familie 7.000 Rubel (180 Euro) geschenkt, um ein großes Feld Radieschen zu säen und vom verkauften Ertrag zu leben. Bis zu einem gewissen Punkt ging alles gut. Als aber vor ein paar Wochen geerntet werden sollte, lag die Großmutter mit kaputter Leber im Krankenhaus, und Eltern und Onkel waren tagelang so betrunken, dass sie kein einziges Radieschen herausziehen konnten.

In Blagoveshenka, ein Dorf wie Alexejewka oder Stepnoje (vgl. frühere Briefe), wird eine Kapelle gebaut. Im Juli kommen 20 Jugendliche aus Litauen, die die Lehmwände auf dem schon gelegten Fundament hochziehen werden. Die jetzige Kapelle, eine Baracke aus Glas und Ziegeln, wird dann zum Wohntrakt für die hier häufig stattfindenden Kinder- und Jugendlager, und auch für die Kinder vom Dorf, denen ich jede Stunde gönne, die sie nicht zu Hause verbringen müssen. Ich erkläre das noch an einem Beispiel: Am Abend brachten wir Kinder mit dem Auto nach Hause. So groß ist das Dorf! Eine Neunjährige bat mich, ihre kleine Schwester anzuschauen, die am 18. August ein Jahr alt wird. Beim Aussteigen kam uns der Großvater entgegen. Erst schien mir, dass er Invalide sei, dann sah ich, dass er betrunken war. Wir öffneten das Tor zum kleinen Hof. Dort saßen Vater und Onkel des Mädchens unter einem Baum an einem morschen Tisch, auf dem nichts anderes als eine große Flasche Wodka stand, halb leer. Die Mutter schnitt einem Nachbarjungen auf einem Stuhl am Stalleingang die Haare. Der große Bruder – vielleicht elf Jahre alt – hielt das kleine Schwesterchen auf dem Arm. Auf Fotos wirkt das ganze vielleicht sogar idyllisch. Nur die Flasche auf dem Tisch lässt den wahren Zustand ahnen. Die Tür zum Haus stand weit auf und zog meinen Blick in eine schwarze Höhle. Heizen, Kochen, Braten, fehlende Fensteröffnungen – ich musste nicht raten, wovon die Wände so schmierig schwarz waren. Wie oft habe ich das schon gesehen!? Mir ging es unter die Haut, wahrscheinlich weil ich den ganzen Tag über ein fröhliches Kind unter Altersgenossen und Erwachsenen erlebt habe, das in der Kirche „wie zu Hause“ war.

Ein zweites Mädchen stieg kurz danach aus dem Auto. Sie bat noch einmal um meinen Fotoapparat, mit dem die Kinder tagsüber viel unterwegs waren, um nun ihre Mutter zu fotografieren. Als die vor meinen Augen zum Schlagen ausholte, bat die Tochter immer noch mit – vom Tag – fröhlicher Stimme: „Mama, Mama…!“ Kurz darauf entging sie (und mein Fotoapparat) der unkontrollierten Armbewegung der Frau, von der oben, bei den Radieschen, schon die Rede war.

Die beiden Mädchen, um die es gerade ging, erzählten mir noch vor dem Aussteigen, wie viele Familienmitglieder sie zu Hause sind. Auch Großeltern und Onkels wohnen hier oft im gleichen Haus. Als die eine zur Aufzählung der anderen hinzufügte: „Sie hat keinen Großvater. Der hat sich erhängt“, antwortet die Betroffene mit beschämtem und enttäuschtem Gesicht: „Danke, Freundin!“ Um die Sache zu entschärfen, fügte die Erste nun hinzu: „Und?! Was ist dabei? Meiner hat sich auch aufgehängt.“

Vieles lasse ich jetzt weg, z.B. die Begegnung mit der Gemeinde in diesem Dorf, die pfarreigenen Pferde, auf denen alle Kinder reiten, wie sie wo anderes Fahrrad fahren, das Bordell im Dorf und die Ausgangssperre.

Nur noch kurz zum Sonntag. Aus allen drei Gemeinden Kabardino-Balkariens waren die Gläubigen nach Prochladny in die Gemeinde der „Heiligen Familie“ eingeladen, zur Firmung und zum Gemeindefest. Fünf Erwachsene hatten sich recht ernsthaft auf die Firmung vorbereitet, besonders eine ältere Dame, die Gott schon in allen möglichen religiösen Gemeinschaften gesucht hat. Sie hat hervorragende Bibelkenntnisse und machte einen sehr selbstsicheren Eindruck. Ich kann mir vorstellen, wie schwer es dem noch nicht so gut Russisch sprechenden Pfarrer im Unterricht mit ihr gefallen sein muss. Nach dem Gottesdienst wollte sie mich kurz sprechen und erklärte, den Tränen nahe, dass ihr scheint, nun endlich gefunden zu haben, was sie so lange gesucht hatte. Am Ende der feierlichen Liturgie, flüsterte mir eins der Kinder, die ich am Tag vorher kennengelernt hatte, von der ersten Bank aus freundschaftlich zu: „Herr Bischof, Sie haben einen schönen Hut!“

Ein Imbiss für alle schloss sich an. Im Hof waren Tische gedeckt. Mir gegenüber saß ein protestantischer Pastor mit Familie, der vor 10 Jahren wegen Drogen aus der Militärschule entlassen wurde. Er hat es geschafft und ist frei von der Sucht. Mit seiner Frau und zwei Kindern hat er ein Haus im Dorf gekauft. Mit 20 Drogenabhängigen, die ihn um Hilfe gebeten haben, betreibt er dort eine Landwirtschaft. Manche hatte er mitgebracht. Rechts von mir saß zum Beispiel einer seiner Schützlinge, der 30 seiner 50 Lebensjahre in Gefängnissen verbracht hatte. Der Pastor ist mit unserem Pfarrer befreundet. Sein heroischer Einsatz für andere ist hoher Bewunderung wert.

Bevor alle noch einmal in die Kirche zu einem Orgelkonzert auf dem Keyboard der Gemeinde eingeladen wurden, baten mich zwei Frauen, die zum ersten Mal in die Kirche gekommen waren, um einen Segen. Eine von beiden ist Ärztin. Ihr einziger verbliebener Sohn ist Alkoholiker, der andere war bei schweren Unruhen vor 5 Jahren ums Leben gekommen. Damals hatten Tote tagelang auf den Straßen Naltschiks gelegen, weil man Bomben an ihren Körpern befürchtete. Weil niemand auf die Straße gehen durfte, beteten die Schwestern von Mutter Teresa mit den Leuten am Telefon. – Das „Orgelkonzert“ war ein bisschen lang: anderthalb Stunden! Zu hohe Kunst für einfache Leute. Mir scheint, nicht wenige gaben den Kampf gegen den Kirchenschlaf bei hochsommerlichen Temperaturen letztlich einfach auf.

Zurück in Naltschik, überraschte uns ein stundenlanger Wolkenbruch. Der Himmel war schwarz, die Straßen wurden zu Flüssen, die Obst- und Gemüsehändler saßen in ihren Autos und beobachteten hilflos ihre Ware, die sprichwörtlich „den Bach runter ging“. Die beiden Patres und Bruder Karl meinten, dass es oft so regne und dass dann immer das Wasser weg sei. Zum Beweis öffnete Pater Laurent den Wasserhahn in der Küche. Kein Tropfen kam heraus. „Das ist aber nicht für lange“, beruhigte er mich. „Wie, nicht lange!“ fielen die anderen beiden ein, „Manchmal bleibt das Wasser drei-vier Tage weg!“ – Pater Laurents Antwort darauf: „Ich sage doch: nicht lange.“

Vom bedrückenden Gespräch mit einer Angestellten des regionalen Fernsehens werde ich nicht anfangen zu erzählen. Über die Berge gäbe es viel Schönes zu sagen. Jeden Monat geht die Pfarrjugend einmal wandern, den Elbrus (5.642 m) vor Augen. Eine russische Frau, die zur gleichen Zeit wie ich in Grimma zur Schule gegangen ist, weil ihr Vater dort in der Sowjetarmee diente, fragte mich nach Neuigkeiten aus Sachsen. Mitarbeiter unserer Seelsorger halfen bei der Organisation dieser frohen Tage tatkräftig mit. (…)

Am Montag startete ich in wolkenlosen Himmel und schaute 20 Minuten lang auf den mäjestätischen Elbrus, einen schlafenden Vulkan an der Grenze Europas. Dann tauchte unten Pyatigorsk auf, die Nachbarpfarrei von Naltschik, deneben – gut sichtbar – der Flughafen von Mineralnye Vody. Und im Flugzeug gab’s Mineralwasser…

Zum Schluss noch ein Gedanke zu unserer Diaspora. Heute in zwei Monaten werden es 20 Jahre, dass ich hier in Russland bin. Zahlenmäßig können wir mit keinen Statistiken europäischer Länder mithalten. Unsere Gemeinden sind sehr klein. Was es aber „kostet“ einem einzigen Menschen aus der Sackgasse zu helfen, kann man nicht nur am Beispiel der Schwestern von Mutter Teresa ablesen. Unsere Priester und Ordensleute geben sich mit ihrer ganzen Kraft und ihrer ganzen Zeit in ihre Berufung hinein, in die Seel-Sorge. Ich hoffe, dass uns das auch weiterhin möglich sein wird, dass diese Menschen nicht müde werden, dass sie geistlich immer und - physisch noch lange gesund bleiben, dass wir mit dem Verständnis und der Hilfe unserer Brüder und Schwestern im Ausland rechnen dürfen … und dass wir die Gewissheit nicht verlieren, dass Er es so will.

Mit herzlichen Grüßen,
Clemens Pickel